Gefundenes Fressen

Das perfekte Dinner bei VOX, Teil 1: Deutschland, wie es isst

Beherzt das Glas ergreifen und es mal richtig scheppern lassen: Anstoßen in Deutschland

„Das perfekte Dinner“ auf VOX zeigt die Esskultur der deutschen Mittelklasse – eine Fundgrube für die kulinarische Feldforschung von Quarkundso.de. Wir haben die wichtigsten Trends herausgearbeitet: Hauptsache gemütlich und Freiheit über alles.

„Das perfekte Dinner“ auf VOX ist einfach Kult. Seit mehr als 15 Jahren erfolgreich, mit fester Fangemeinde und großem Echo auf Twitter und Instagram. Jede Folge dauert eine Woche und spielt irgendwo in Deutschland.

Ab Montag laden fünf Hobby-Köche reihum zuvor Unbekannte in ihre Wohnung ein und servieren ein Menü. Am nächsten Abend muss ein anderer aus der Runde ran, nach dem Dessert geben die Kandidaten den jeweiligen Gastgebern Punkte, freitags ist Finale.

Vor dem Essen beobachtet das Filmteam die Kandidaten beim Kochen: mit welchen Geräten sie hantieren, welche Kniffe sie von Oma haben, ob sie gut organisiert oder chaotisch sind. Gewürze und Stile, modische Gerichte und Zutaten, außerdem das, was als gastlich, höflich, manierlich gilt, alles ist zu sehen.

Und das quasi live. Denn obwohl die TV-Autoren eine klare Dramaturgie und viele erzählerische Kniffe einbauen – gefälscht ist da nichts.

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Kulinarische Feldforschung zur deutschen Esskultur

Gut, ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung kocht da natürlich nicht: Im Bild ist die Mittelschicht. Alle sind gut situiert, zeigen geräumige Küchen und Essplätze, viele haben Wintergärten oder eine Terrasse.

Keine Hartz-IV-Empfänger, keine Reichen – zu sehen sind Lehrer, Projektmanagerinnen, Juristinnen, Verkäufer, ein Architekt, Marketingpersonal, eine Heilpraktikerin, Hausfrauen, Rentner, jemand von der Sparkasse, ab und an Studentinnen. Die Altersspanne reicht von 21 bis über 60.

Einigermaßen bürgerlich also – und das macht die Sendung so interessant: Rituale, Stil und Geschmack der Mitte zeigen die Kultur einer Gesellschaft wie im Brennglas. Immerhin ist die Klasse auch die größte Schicht: rund die Hälfte aller Deutschen gehört dazu.

Quarkundso.de, stets an der Spitze der kulinarischen Feldforschung, hat jetzt mehrere Folgen des perfekten Dinners analysiert und die wichtigsten Trends herausgearbeitet. Sie zeigen sich vom Aperitif über die Tischmanieren und den Umgang mit Messer und Gabel bis zu den eigentlichen Speisen und Zutaten, Geschmacksvorlieben und Ritualen.

Das ist so interessant, dass ein einziger Beitrag darüber nicht reicht.

Dem Volk aufs Maul geschaut

Alleine über den Aperitif gibt es viel zu schreiben, eine ganze Folge wert sind natürlich auch die Gerichte und Menüs selbst. Für den Anfang soll es daher nur um die Äußerlichkeiten gehen, also um Auftreten, Tischmanieren und das Essen mit Messer und Gabel.

Hier zeigt sich die Esskultur der deutschen Mittelklasse über alle Regionen der Republik erstaunlich stabil. Und die Phänomene haben eines gemeinsam: Im Knigge stehen sie nicht.

Das verwundert einerseits, da es sich um eine durchaus gut gebildete und finanziell nicht prekäre Klasse handelt.

Andererseits entwickelt ein Volk schließlich über Jahrhunderte seine Eigenarten und Gepflogenheiten. Dagegen setzen altmodische Benimmbücher nur abstrakte Normen. Sie zeigen nicht, wie Menschen sich natürlich verhalten.

Genau darum aber geht es – nicht um den weltfremden Kodex einer kleinen Oberschicht.

Die Dinner-Studie von Quarkundso.de geht dabei streng wissenschaftlich vor, ohne jeden Vorbehalt. Rein empirisch-beschreibend, wie es Anthropologen im Urwald bei einem neu entdeckten Stamm tun würden: dem Volk aufs Maul geschaut – Deutschland, wie es isst.

Grüße an den Bauch

Schon der Auftakt des Abends ist interessant: Am Tisch wünscht man sich in Deutschland laut einen guten Appetit. Meistens kommt der Spruch sogar von einem Gast.

Touristen können da nur lernen, denn internationale Ratgeber für Umgangsformen führen sie in die Irre. Die betonen, dass Gäste bei Einladungen nicht das Kommando übernehmen und dass es generell schlechter Stil ist, „Guten Appetit“ zu wünschen.

Nicht in Deutschland.

Hier vergeht keine Dinner-Runde ohne Grüße an den Bauch. Die Sitte stammt aus dem Mittelalter und rückt die Verdauung ins Zentrum des Bewusstseins. Da es ums Essen geht, ist das nicht unlogisch, und der Deutsche schätzt bekanntlich die Tradition.

Doch es kommt noch etwas dazu. Beobachten lässt sich auch so etwas wie Rücksicht und Bescheidenheit: Nicht vor den anderen mit dem Essen anfangen, die anderen noch einmal bedenken.

So etwas muss es sein, denn alle fühlen sich sichtlich unwohl, rutschen verlegen auf ihren Stühlen herum, schauen vorsichtig auf den Nachbarn und warten, bis jemand das erlösende „Ich wünsche euch allen einen guten Appetit!“ hervorstößt.

Das gilt auch, wenn der Gastgeber schon mit dem Essen angefangen hat – das offizielle Signal zum Essenfassen, das keiner weiteren Wünsche bedarf. Zumindest laut Stilfibel.

Beim deutschen perfekten Dinner aber werden die Bäuche immer bedacht.

Empirisch halten wir daher fest, dass hierzulande gilt: Iss niemals, bevor Du allen einen „Guten Appetit!“ gewünscht hast!

Deutsche Gäste lassen sich nichts sagen

Beim Zuprosten ist man in Deutschland dagegen eigenwillig. Den Toast, den Hausherrin und Hausherr vorgeben, ignorieren die Gäste grundsätzlich: Die Dinner-Gäste antworten beherzt mit einem eigenen Trinkspruch.

Erhebt die Gastgeberin also das Glas und verkündet, sie freue sich, dass alle da seien und sie wolle jetzt auf einen schönen Abend anstoßen, erwidert garantiert einer aus der Runde: „Ja, und auf Dich!“, worauf noch jemand „Auf uns alle!“ und eine weitere „Auf eine fantastische Woche!“ hinzufügt.

Dann scheppern Wein-, Wasser-, Saft- und Biergläser aneinander, Hauptsache, es klirrt.

Ostentatives Anstoßen gehört offiziell zwar auch nicht zum guten Ton. Der sieht vor, das Glas nur dezent zu erheben, Bier oder Wasser nicht auf Wein treffen zu lassen und sich nicht über den Tisch zu beugen. International, übrigens.

Aber die Deutschen lieben das Anstoßen. Es verbindet und integriert, es schafft die berühmte Gemütlichkeit, und es ist wie ein Tusch zum Auftakt.

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Lässig wie bei Mutti

Tatsächlich ändert sich die Welt mit den Sitten: Was gestern noch als vornehm galt, bremst heute die Stimmung.

Das fängt bei den weißen Tischdecken an, die inzwischen sogar aus den Sternerestaurants verschwunden sind. Zu steif, zu sauber, zwingen zu sehr zum Benehmen, das verunsichert die Gäste.

Der Gastronomie passt das: Sie spart ohne weiße Wäsche viel Geld und Aufwand, eine Win-Win-Situation.

So dominieren auch beim perfekten Dinner blanke Holztische.

An diesen zeigen sich die Gäste ungezwungen wie zuhause bei Mutti: Sie stützen lässig die Ellenbogen auf, gestikulieren ausdrucksvoll mit der Gabel, plaudern mit vollem Mund, lecken das Messer ab, umfassen die Weingläser am Kelch, fragen ungeniert nach Salz und Pfeffer und wissen nicht immer, wozu dieses Stück Stoff da ist:  Die Serviette liegt gerne während des gesamten Essens neben dem Teller.

Die Forschungsabteilung von Quarkundso.de stellt daher fest: Der Zwang zum Essen nach fremden Manieren besteht in Deutschland nicht. Hier herrschen Vielfalt und Toleranz.

Essen mit Messer und Gabel: unendliche Möglichkeiten

Gut zu sehen ist das beim Hantieren mit dem Besteck. Der motorische Einfallsreichtum dabei ist erstaunlich: Bleistiftgriff oder der Dreher – vor dem Mund die Gabel wenden – alles ist möglich.

In einer einzigen Runde zeigten sich am Tisch neben dem klassischen Skalpellgriff folgende Varianten:

  • Die Schaufel: die Gabel beherzt packen wie die Schippe im Sandkasten, und ab geht es in den Mund.
  • Der Bleistift: die Gabel wie einen Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger nehmen und mit dem Daumen fest zudrücken, gelernt ist gelernt.
  • Die Violine: die Gabel von oben greifen wie ein Geiger sein Instrument, mit den Fingern in einer Reihe, sehr zierlich und elegant.
  • Gibt es ein ordentliches Stück Fleisch, geht auch der Dolch: das Messer von unten in die Faust genommen, fest umschlossen und bereit zum blutigen Stich, vorgeführt von einem Architekten. Eindrucksvoll.

Die wichtigsten Werte der Deutschen: Freiheit und Gemütlichkeit

Die beobachtende Forschung zieht an dieser Stelle ein erstes Fazit: Die wichtigsten deutschen Werte zeigen sich beim perfekten Dinner plastisch.

An erster Stelle steht bei einem förmlichen Essen mit Aperitif, drei Gängen und Weinbegleitung die tief verwurzelte deutsche Gemütlichkeit: Bei Tisch soll man sich wohlfühlen, jeder kann essen, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist, und der Bauch geht über alles.

Alles andere wäre Zwang, und gegen Zwang haben Deutsche etwas. Denn der größte Wert der Deutschen ist die Freiheit.

Wer sich nicht frei fühlt, die Physiologie des Nachbarn zu kommentieren, der Gastgeberin mit dem eigenen Trinkspruch zu antworten oder ihre Führung bei Tisch zu missachten, sollte sich daher in die herrschende Kultur besser integrieren.

Sonst wird es nichts mit dem Deutschtum, auf lange Sicht.

Interessant sind noch die Nebenwerte von Vielfalt und Toleranz bei Tisch und bei den Manieren. Für diese Tugenden sind Deutsche im Ausland eigentlich nicht so berühmt – wir werden das weiter beobachten, gleich in der nächsten Folge.

Dann geht es um ein verwandtes Phänomen, den deutschen Individualismus: Identitätsstiftend zeigen die deutschen Gäste bei Einladungen Vorlieben und Abneigungen. Ein ganz eigenes Kapitel. Fortsetzung folgt.

©Johanna Bayer

Teil 2 und Teil 3 der kleinen Dinner-Reihe gibt es hier:
Vox und das perfekte Dinner, Teil 2, Aperitif: Wo sind die Schirmchen?
Vox und das perfekte Dinner, Teil 3: Küchen der Welt – auf deutsche Art

Kleine Anmerkung der Redaktion: Natürlich ist da nichts „live“.

„Live“ war im übertragenen Sinn gemeint, als „echt“, „pur“, obwohl bearbeitet. So stand es auch eindeutig im Text: „Denn obwohl die TV-Autoren eine klare Dramaturgie und viele erzählerische Kniffe einbauen, gefälscht ist da nichts.“

Damit keine Verwirrung entsteht, sind zwei Stellen geändert. 

 

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  1. Jetzt bin ich wirklich neugierig auf die Sendung!

  2. Ich habe erst im Ausland gelernt, dass man sich um Gottes Willen keinen „guten Appetit“ wünscht der Blick meiner Schwiegermutter sprach Bände Ich erkenne mich auch schuldbewusst wieder in der, die gerne einen eigenen Trinkspruch hinzufügt. Das werde ich von nun an lassen. Versprochen! Freue mich sehr auf die Fortsetzung dieser Serie („Aperitif“ schon gelesen, großartig! Prost!)

    • Claudia

      An dem Brauch, sich „Guten Appetit“ zu wünschen, finde ich nichts Schlimmes. Es ist bei uns so üblich. Wie wir gerne die Traditionen anderer respektieren, gar bewundern und uns ihnen anpassen, wenn wir dort sind, so sollten wir aber auch unsere eigenen achten.

  3. Lustig! Ich lese gerne weiter mit. Und insbesondere die Handhabung von Besteck fasziniert mich auch immer wieder…

  4. Marie

    Nur EINMAL habe ich diese Sendung gesehen, mich damals schon sehr amüsiert und es hat mir gereicht.
    Als überaus streng erzogenes Kind (Tisch-Manieren!) kann ich mich nur noch wundern, was heute als „Perfekte Dinner“ Kultur im TV vorgeführt wird. O tempora, o mores!

    Dieser Blog-Eintrag aber ist nicht zu übertreffen und ich habe schon lange nicht mehr so gelacht!

  5. Mona

    Was mir beim Perfekten Dinner immer auffällt: Kaum jemand hat Bücher.

    Die klassischen Tischmanieren haben sich ab den 70er-Jahren verabschiedet. Man könnte auch noch darüber reden, wie sich die Gäste für ein vermeintlich perfektes Dinner kleiden.

  6. Ich sehe mir diese Sendung immer mal wieder an, mehr oder weniger regelmäßig, mit einer Mischung aus Faszination und Grausen. Wie die unbewusste Geschwindigkeitsverzögerung, wenn man auf der Autobahn eine Unfallstelle passiert.

    Abgesehen von den teilweise erbärmlichen Kochkünsten (ich denke dann immer, boah, die trauen sich was, damit ins Fernsehen …), möchte ich den TeilnehmerInnen fast jedes Mal eine Stilbibel um die Ohren hauen 🙂

    Aber Spaß macht’s halt schon! 😀

  7. Ute

    Das MUßTE doch mal gesagt werden!!!!

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