Gefundenes Fressen

Sorry, nochmal Übergewicht: Plattitüden im SPIEGEL

Wir wiederholen uns ungerne, aber leider gibt es zu Übergewicht einen Nachtrag. Das liegt am SPIEGEL, der ein großes Dossier zu Fettleibigkeit mit genau zwei Thesen hinterhergeschoben hat: Die Agrar- und Lebensmittellobby ist schuld am Übergewicht und wir können nicht anders. Ist das nicht etwas unterkomplex?

Das Thema Übergewicht ist Ende Januar eigentlich durch. Aber gerade klapperte der Spiegel hinterher und brachte am 4.2.2023 eine große Titelstory über die fetten Deutschen raus.

Das knallbunte Titelbild zeigt Zuckerbomben und Fastfood, die Geschichte dazu enthält ein Kaleidoskop von Momentaufnahmen: Betroffene kommen zu Wort, Gesundheitsforscher, Ärzte, ein dickes Kind, Cem Özdemir, der grüne Vegetarier und Ernährungsminister. Zahlen werden genannt, Grafiken gemalt und die Evolution beschworen, wegen der Gene.

Auch die Schuldigen sind ausgemacht: Es ist die Agrar- und Industrielobby. So schlicht, so pauschal.

Allerdings haben Bauern, Hersteller, Handel und Lebensmittelindustrie, anders als andere Akteure der Story, keinen Auftritt in der Geschichte.

Quarkundso.de ermittelt: Wer ist in der Story?

Die Chefredakteurin hat natürlich sofort die Investigativabteilung drangesetzt: Hat der Spiegel bei der Recherche die „Agrar- und Industrielobby“ befragt, oder einfach mal nachgehört, was sie zu sagen hat?

Auf die dringliche Anfrage von Quarkundso.de antworten Bauernverband, Lebensmittelverband Deutschland sowie die Bundesvereinigung der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie BVE prompt und ehrlich. Die griesgrämigen Bauern wollen aber lieber nicht zitiert werden, Lebensmittelverband und BVE sagen es offen: Nein, bei uns hat sich niemand vom Spiegel gemeldet.

Ach so? Man könnte aber doch erwarten … bei Journalisten … sorgfältige Recherche, alle Seiten …

Nun gut. Vielleicht waren die Autoren der Standardantworten müde, die von der Industrie kommen: der mündige Verbraucher, blabla, das Recht auf Selbstbestimmung, der eigene Lebensstil, blabla, die Vielfalt der Produkte, die Eigenverantwortung, blablabla.

Das mindestens zehnköpfige Spiegel-Team, das die Geschichte recherchiert hat, hätte sich aber mal auch ins Zeug legen und andere Antworten herauskitzeln können. Wie steht die Ernährungswirtschaft zu den Zahlen, zur Wissenschaft, was ist das Bild, das sie sich vom Geschehen – Übergewicht – macht, wo sieht sie ihre Verantwortung?

Ja, eigentlich hätte man die Antworten suchen müssen. So aber kommen andere Plattitüden – diesmal aber von den Guten.

DER SPIEGEL vom 4.2.2023: „Die fetten Jahre kommen noch“ / eigenes Foto

Ernährungsindustrie: „Opfer des eigenen Erfolgs“

Da spekuliert zum Beispiel der Historiker Uwe Spiekermann über die Position der „Industrie“: Sie folge einer „Logik des Ökonomischen“.

Ach was, sagen Sie bloß. Kaufleute wollen verkaufen?

Plattitüdenalarm, eindeutig. Dabei bricht Spiekermann durchaus eine Lanze für die „Lobby“: Es sei „zu einfach, nur vorwurfsvoll auf die Hersteller von Nahrungsmitteln“ zu schauen.

Die Industrie sei Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden, sie habe halt seit dem 19. Jahrhundert zu viele gute und sichere Lebensmittel hergestellt. Jetzt müsse sie einen gesättigten Markt bedienen und neue Produkte an die Käufer bringen.

Dabei komme aber „sowohl dem Individuum als auch dem Handel eine viel größere Bedeutung zu als den Produzenten.“

Interessanter Gedanke.

Gegessen wird immer

Denn die „Lobby“ besteht aus unterschiedlichen Gewerben, darunter Bauern, Gemüsegroßhändler, Mühlenbetreiber, Molkereien, Wurstfabriken, Bäckereiketten. Und dann sind da noch Discounter, Ketten, große Supermärkte.

Ohne die würde es nicht gehen, Lobby hin, Lobby her: Gegessen wird schließlich immer. Wie kann man da die Spreu vom Weizen trennen, und kann man die alle in einen Topf werfen? Wer genau ist denn „die Lobby“?

Etwas mehr Analyse wäre an dieser Stelle also nicht schlecht gewesen. Zumal der Historiker Spiekermann den Scheinwerfer auf die Konsumenten und ihre Wünsche richtet.

Daran ist der Spiegel aber nicht interessiert – dass die Käufer laut Spiekermann mit zu adressieren sind, lässt die Redaktion nicht gelten: Sofort nach dem Einwurf schwenkt das Autorenteam um auf eine Gesundheitsforscherin.

„Die Macht der Agrar- und Lebensmittellobby“

Die schiebt den Schwarzen Peter wieder rüber zur „Lobby“ – man dürfe den Einfluss der Kaufumgebung nicht unterschätzen, sagt Anja Schienkiewitz vom Robert-Koch-Institut (RKI):

„Produkte werden so platziert, dass genau die gekauft werden, die man eigentlich gar nicht kaufen will‘.“

Ach, tatsächlich? Wieder eine Plattitüde. Und es bleibt die Frage, wie man sonst ein Schaufenster, eine Auslage, dekorieren kann – mit den hässlichen, unansehnlichen Ladenhütern?

Ebenso, wie man der „Lobby“ das übliche Blabla vorwerfen kann, ist auch der Vorwurf, Kunden zu manipulieren, indem man Ware schön auslegt, eine Hohlphrase.

Schon auf der Seite davor hatte eine andere Gesundheitsexpertin, Sarah Forberger, geurteilt: „Die Macht der Agar- und Lebensmittelindustrie ist nicht gesund“.

Starke Worte. Aber ehrlich: Das ist Plattitüde Nr. 3.

Wir legen jetzt eine Liste an.

Zahlen zeigen: Es gibt nicht immer mehr dicke Kinder

Anja Schienkiewitz ist am RKI übrigens mit den Zahlen von Studien zu dicken Kindern befasst. Die haben ergeben, dass der Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder seit Jahren nicht zunimmt.

Im Klartext: Seit 2014 bleibt der Anteil gleich, hat Studienautorin Schienkiewitz herausgefunden. Es werden also nicht immer mehr Kinder und Jugendliche immer dicker.

Das heißt allerdings nicht, dass das Problem weg ist: Die Zahlen stagnieren auf hohem Niveau und es gibt Gruppen, die besonders betroffen sind, darunter einkommensarme Familien und Migranten.

Trotzdem sind, den Schluss lassen die Ergebnisse durchaus zu, nicht Kinder das „dicke Problem“.

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Wann Menschen dick werden

Denn wenn es schon seit 2014 nicht immer mehr dicke Kinder gibt – warum gibt es immer mehr dicke Erwachsene?

Tatsächlich kommen die fetten Jahre bei den allermeisten gerade nicht in der Jugend. Sondern im Erwachsenenalter, ab Mitte 20, Anfang 30.

In dieser Zeit vollzieht sich ein physiologischer Knick, der Körper wächst nicht mehr und braucht weniger Kalorien. Normalverbraucher futtern aber weiter wie früher, und dazu kommt der Alltag, die Arbeit, das Leben: Man hat sich an Wohlfühlessen gewöhnt, trinkt mehr Alkohol und treibt weniger Sport – der Stress, kleine Kinder, der Hausbau.

Die einzige, die dazu etwas sagt, ist Gesundheitsforscherin Forberger. Sie prangert starre Achtstundentage an und fordert ein, dass es Zeit für Gesundheit geben muss. Das System müsse man ändern – aber das wird dauern.

Gegen Ende des Arbeitslebens kommt dann ein weiterer Knick, so ab 50, wenn die Hormonspiegel sinken und der Körper noch weniger Energie verbraucht. Nicht umsonst finden sich die meisten Dicken in der Altersgruppe 60 plus: Gefuttert wird jetzt als Rentner auf dem Kreuzfahrtschiff oder beim Grillen im Schrebergarten. In dieser Gruppe sind Normalgewichtige schon lange in der Minderheit.

„Was Hänschen nicht lernt …“ ist trotzdem das Pferd, das der Spiegel weiter reitet – wieder Plattitüdenverdacht. Es ist Nr. 4.

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Honig und Ahornsirup sind nicht gesünder

Dafür bieten die Journalisten Momentaufnahmen aus vorbildlichen Schulkantinen. Es folgt der übliche pädagogische Kitsch: Kinder, die in der Mensa „gesundes Gemüse“ schnippeln, Speisepläne mitgestalten und im Schulgarten buddeln.

Romantisch ist auch die Vorstellung, dass mit Ahornsirup oder Honig „statt Zucker“ gesüßte Desserts irgendwie „gesünder“ sein sollen.

Das sind sie nicht. Ahornsirup und Honig sind auch nur Süßungsmittel, enthalten keine nennenswerten Mengen an Vitaminen, wirken im Körper nicht anders als Haushaltszucker und machen genauso dick.

Zumal die Gier deutscher Kinder nach Süßem in den angeblich vorbildlichen Schulkantinen ausgiebig bedient wird: süße Salatdressings („Mango-Curry“), Müsli, Milchreis mit Zimt, Süßkartoffeln, süßer Smoothie, es hört gar nicht auf mit dem Süßkram. Geschmackserziehung sieht anders aus – wenn schon.

Aber ja, so isst Deutschland, von Jugend an bis ins Altenheim. Wo soll man da anfangen?

Kampf um kulinarische Correctness: Jedes Mittel ist recht

Im Supermarkt natürlich – Auftritt Ernährungsberaterin.

Die fegt nicht etwa in der kulinarisch korrekten Schulkantine aus, sondern erklärt, wie man Warentheken und Regale im Supermarkt so anordnen könnte, dass die Kunden zuerst auf Vollkornbrot und mageren Schinken stoßen. Und nur weit hinten auf Schmalzgebäck und Wurst.

Wobei die autoritäre Ökotrophologin schon Salami „ungesund“ findet, weil „fett“.

„Gesunde Lebensmittel“ gehörten gekennzeichnet:

„Man sollte einführen, dass sich die gesunden Lebensmittel optisch von den ungesunden unterscheiden müssen, damit der Blick direkt auf die besseren Produkte gelenkt wird.“

Nun geben sich seit Jahrzehnten Ernährungsexperten und Wissenschaftler Mühe zu erklären, dass es keine gesunden oder ungesunden Lebensmittel gibt.

Und  Supermärkte ordnen schon längst ihre Verkaufszonen so an, dass frisches Obst und Gemüse ganz vorne im Eingangsbereich steht. Es ist das erste, worauf man stößt, überall frisches Gemüse und Obst.

Das nützt aber nichts – die Kunden laufen stracks nach hinten zu den Chips und der Schokolade.

Autoritären Charakteren sind diese Fakten in ihrem Kampf um kulinarische Correctness egal. Wissenschaft interessiert wenig, nur, nun ja – Plattitüden.

Ein Supermarkt ist keine Apotheke

Allerdings sollten sich die Fanatiker nichts vormachen: Wer Salami will, der findet sie auch als Bückware im untersten Regal.

Denn weder den Tricks der „Lobby“ noch den Tricks der Volkserzieher gegenüber ist der deutsche Verbraucher hirn- und willenlos.

Auch kann man aus Lebensmittelläden keine Apotheke mit Giftschrank machen.

Und überhaupt – was folgt aus dieser Logik? Müsste man dann nicht auch ungesunde Möbel inkriminieren – Sofas! Sessel! Betten! Die verführen doch geradezu zur Faulheit, da wird man nur dick!

Scherz beiseite – natürlich reden wir nicht der tumben Fresserei das Wort. Sondern wünschen uns den Blick aufs Wesentliche: Warum werden Menschen gefährlich dick und können die Kilos nicht loswerden?

Psyche und Gewicht: Steckt das Problem im Kopf?

Hierzu hat der Spiegel vier Kronzeugen aufgeboten: einen isolierten, frustrierten Jungen, einen Adipösen, der sich den Magen operieren ließ, weil er keinen Ausweg mehr wusste, eine Frau, die immer wieder Diäten machte und gleich wieder zunahm, und Tim Raue, den übergewichtigen Berliner Sternekoch, der seit seiner Jugend mit dem Gewicht kämpft.

Alle sagen dasselbe: Es geht um das Gemüt, es geht um Frustessen, um die Psyche, um Wut, Enttäuschung, um das Verlorensein, um Komplexe, um übermäßiges Essen als eine „Form der Selbstliebe“, Tim Raue spricht es aus.

Sie sagen nicht: Die Industrie hat uns verführt, wir wissen eigentlich nicht, was gut oder gesund ist, wir fallen immer wieder auf die Tricks der Lobby rein.

Einer der Betroffenen ist Michael Wirtz, im Vorstand eines bundesweiten Selbsthilfeverbandes zu Adipositas. Er ist der, der sich Magen verkleinern ließ, und er sagt klipp und klar, dass sein schweres Übergewicht eine chronische Krankheit ist, der man nicht entkommt.

Und bei der es nicht hilft, dass man – im Kopf – weiß, was gut oder nicht gut beim Essen ist.

Adipositas ist eine unheilbare chronische Krankheit

Hier wäre es schön gewesen, wenn der Spiegel nachgeforscht und sich nicht mit einem bunten Kaleidoskop von Schnappschüssen samt Plattitüden begnügt hätte.

Eine chronische Krankheit. Unheilbar, wie Mediziner inzwischen wissen. Ein Problem, dem man nicht entkommt. Das ist erschütternd und ein ganz anderer Ansatz als die – platte – Parole: Jeder kann abnehmen, wenn er nur will. Oder die Mär von der Lobby, die Menschen schaden und sie verführen will.

Man hätte auch trennen müssen zwischen – einfachem – Übergewicht und dem krankhaften, unheilbaren Übergewicht. Es ist nicht dasselbe. Die einen können raus, die anderen schaffen es nie.

Aber dieser brisanten und dramatischen Sache gehen die Journalisten nicht nach. Dabei ist die Erkenntnis zum unheilbaren Übergewicht ein echter Paradigmenwechsel in Medizin und Gesundheitspolitik: Nein, die Fetten können nichts dafür, und nein, sie können nicht abnehmen.

Leider hat das Spiegel-Team keine Psychiaterin befragt, keine Therapeuten, Psychologen. Man hätte sich mit Leuten aus Abnehmkliniken unterhalten können, und mit Suchtforschern.

Es gibt kein richtiges Essen im falschen

Denn längst ist klar, dass übermäßiges Essen als Suchtverhalten beschrieben werden kann, dass die Mechanismen im Gehirn dieselben sind wie bei Trinkern – und dass die ganze Gemüseschnippelei nichts hilft, wenn die Seele leidet, die Psyche kaputt ist, ein Kind vernachlässigt wird oder ein Mensch einsam ist.

Dass es aber wegen Fastfood, der Industrie, der Lobby und dem Überfluss gar nicht möglich ist, schlank zu bleiben, bleibt bis zuletzt die ganz große Plattitüde im Dossier: Es gibt kein richtiges Essen im falschen.

Für Spiegel-Verhältnisse ist das unterkomplex.

Gemessen an dem Leid der Betroffenen, gemessen an der Not von Kindern, gemessen an den Kosten und Problemen, die Übergewicht macht, sollte es mit einfachen Wahrheiten besser vorbei sein.

©Johanna Bayer

 

Warum steht im Supermarkt Obst und Gemüse immer vorne? Der Bayerische Rundfunk hat nachgefragt, heraus kommt: Diese Lobby macht das mit Absicht!

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5 Kommentare

  1. Frau Abendschön

    In den südlichen Ländern war Süßes schon immer sehr viel süßer, als im Norden; Salziges oder Scharfes ebenfalls sehr viel intensiver … aber deshalb gab es nicht mehr Adipositas, Diabetes, Hypertonie oder Magenprobleme. Es sind viele Faktoren, die zum Desaster führen und nicht nur einer.

    • DirkNB

      Süßes wird dort auch als Genussmittel gesehen und nur sehr dosiert genossen. Im Ggs. zu unserem Zuckerkonsum, der umfassend, beinahe in jedem (industriell hergestelltem) Lebensmittel stattfindet. Die aufgenommende Gesamtzuckermenge dürfte in südlichen Ländern trotzdem sehr viel geringer sein als hierzulande. Und wenn man dann noch die hiesige Bewegungsarmut einbezieht und sonstige ungesunde Lebensweisen (was man natürlich immer nicht wahrhaben will) …

  2. Marco Tullney

    Das ist halt typisch Spiegel und leider auch typisch Deutschland linksgrün: Immer ist die Wirtschaft schuld und soll reguliert werden – weil das in anderen Ländern ja so gut funktioniert hat. Der Bürger, pardon die/die Bürger*In ist immer unschuldig und muss vor der bösen Wirtschaft geschützt werden.

    • Sebastian

      Naja, 100-%-ig falsch ist das ja auch nicht.

      Ja, Adipositas wird inzwischen als chronische Krankheit gesehen. Adipositas zu HABEN.
      Aber die wenigsten werden damit geboren und so kann man durchaus diskutieren, welche Einflüsse dazu führen, Adipositas zu BEKOMMEN.
      Da ist unnötig viel Zucker in Lebensmitteln vielleicht nicht ganz unschuldig dran. Und auch, wenn ich Frau Bayer in der Kritik an der Einseitigkeit des Spiegel Recht gebe, sehe ich auch bei ihr eine gewisse Einseitigkeit.
      Der Konsument hat im Supermarkt eben nicht immer die Wahl. Das zeigt die Aktion von Rewe, in der Pudding mit unterschiedlich hohem Zuckergehalt angeboten wurde. Das hat der Blog hier auch behandelt.
      So löblich und erhellend die Aktion war, hat sich doch letztlich bei den meisten Ketten nix geändert. Klar wähle ich eigenverantwortlich, ob ich zum Apfel oder zum Schokopudding greife. Dagegen kann der Supermarkt auch nicht viel tun. Aber wenn ich den Schokopudding essen möchte, gibt es eben nur den mit viel Zucker, nicht den mit weniger als Alternative (außer bei Rewe vielleicht).
      Insofern kann ich den Handel/die Hersteller nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Und da hier Ökonomie im Spiel ist: Was spricht gegen eine Zuckersteuer?
      Sie verbietet nix und führt erfahrungsgemäß zu weniger Zucker in Lebensmitteln (siehe UK). Das wird das Problem nicht lösen, aber ich wette, dass das einen statistischen Einfluss auf die Zahl der übergewichtigen und adipösen Menschen haben wird.

      • Kommentar des Beitrags-Autors

        Hallo Sebastian,

        der größte Teil meines Textes handelt davon, wie viele Faktoren bei Adipositas eine Rolle spielen, es geht um die Psyche und um Ansätze, die über das platte Zucker- und Industriebashing des SPIEGELS hinausgehen. Im Kommentar zu wiederholen, dass doch der Handel und die Hersteller Schuld sind, fällt dahinter zurück. Da muss ich doch fürchten, dass weder mein Artikel noch der SPIEGEL-Dossier richtig gelesen wurde.

        Sehr wichtig ist auch: Adipositas ist eine chronische Krankheit der Art wie Rheuma oder eine Allergie, also eine chronische Disposition, eine Körperkondition, die durch verschiedene Faktoren getriggert wird. Man ist nicht gesund und „bekommt“ Adipositas wie man sich eine Grippe durch Viren einfängt. Die Grundlage für Adipositas liegt im Stoffwechsel und ist überwiegend genetisch. Wichtige Stellschrauben rund um die Geburt beeinflussen die Disposition, darunter, ob Kinder gestillt wurden oder nicht. Kinder, die gestillt wurden, haben ein eindeutig und auch langfristig ein niedrigeres Adipositas-Risiko.

        Deshalb gilt die Adipositas als chronische und übrigens unheilbare Krankheit (!), eben wie Rheuma oder Allergien. Man kann nur versuchen, die Trigger zu kontrollieren. Im Klartext: Dass es Lebensmittel mit Zucker gibt und Menschen Zucker essen, macht nicht adipös. Der Zucker löst die Adipositas nicht aus wie Viren eine Grippe, auch ist kein einzelnes Lebensmittel verantwortlich für Übergewicht oder Adipositas. Das ist eindeutig Stand der Wissenschaft.

        Was den Handel und die Supermärkte angeht, s. Abschnitt: „Ein Supermarkt ist keine Apotheke“. Wer „gesunde“ Lebensmittel kaufen will, sollte besser ins Reformhaus gehen – allerdings gibt es eben keine speziell gesunden oder ungesunden Lebensmittel, ebenfalls Stand der Wissenschaft.

        Dass eine Zuckersteuer Übergewicht verringert, ist bisher nicht bewiesen, auch nicht in England. Gezeigt werden konnte bisher nur, dass einige Verkaufszahlen runtergehen und dass es in bestimmten Untergruppen – kleine – Erfolge gibt. Aber in anderen Gruppen nicht, so war es in England, Zitat:

        „However, the team found no associations between the sugar tax coming into effect and changes in obesity levels in children from reception class. In year 6 boys, there was no overall change in obesity prevalence.“
        https://www.cam.ac.uk/research/news/sugary-drinks-tax-may-have-prevented-over-5000-cases-of-obesity-a-year-in-year-six-girls-alone

        Was genau dahinter steckt und warum speziell einige Mädchen nicht mehr stärker zugenommen haben, seit die Limos und Säfte teurer wurden, ist tatsächlich unklar. Es könnte sein, dass sie weniger Limos gekauft und getrunken haben, es könnte aber auch sein, dass die Hersteller den Zuckergehalt reduziert haben und gleich viel getrunken wurde. Mädchen wiederum fangen ab einem bestimmten Alter an, ihr Gewicht zu kontrollieren, Hintergrund sind Schönheitsideale und gesellschaftlicher Druck. Wenn also Mädchen in der Altersklasse 11 bis 16 Jahre abnehmen, ist noch nicht gesagt, woran es liegt. Aber Zuckersteuer hin oder her: Der Zucker an sich ist es nicht. Es gibt so viele Lebensmittel, die theoretisch dick machen könnten, dass man auf dieser Ebene nicht praktikabel ansetzen kann. Daher auch der Dauerstreit zwischen Gesundheitspolitikern und Herstellern.

        Dass es keine einfache Lösung gibt, ist nun genau der Grund, warum ich diesen Artikel geschrieben habe: Nur auf der Industrie rumzuprügeln führt am Problem vorbei. Die Betroffenen, die im SPIEGEL-Beitrag zu Wort kommen, sagen es selbst ganz deutlich: An den Lebensmitteln liegt es nicht und an der Industrie liegt es auch nicht.

        Noch ein kleiner Tipp: Schokopudding selbst kochen, dann kann man den Zuckeranteil steuern. Natürlich ist das für Fastfood-Esser nicht befriedigend. Aber die müssen dann im Reformhaus, im Bioladen oder bei den Weight-Watchern nachsehen, ob sie dort was mit weniger Zucker finden, das sie vor dem Fernseher schnell aus dem Becher löffeln können … Und genau daran wird klar, woran es krankt: Bequemlichkeit, Zeit, auch Geld, Mühe, Arbeit, Funktion des Essens. An all diesen Stellschrauben zu drehen, ist die Herausforderung. Es bleibt also schwierig.

        Viele Grüße
        Die Chefin
        Quarkundso.de