In GEO erzählt der Gastro-Philosoph Harald Lemke von Hochkulturen im alten Asien, die sich seit Jahrhunderten fleischlos ernähren, mit Seitan und Tofu. Sehr interessant, stimmt aber leider nicht: Das hat es nie gegeben. Und niemand weiß das besser als Lemke selbst.
(Über das Interview in GEO, Heft 3 / 2015)
Um es gleich zu sagen: Die GEO-Leute können nichts dafür. Sie sind es nicht, die geschwindelt haben, es war der Forscher.
Der wurde gefragt: „Wie können wir besser essen?“ und: „Warum haben Sie unser Essen satt, Herr Lemke?“ Die Antworten hat ein Journalist mitgeschrieben. Der ist zwar durchaus nicht unkritisch, hat aber vorher wohl nicht allzu viel über seinen Gast gelesen. Also fragt er nicht weiter nach. Außerdem schreibt er sonst am liebsten über Technik und man kann ja nicht alles wissen.
Von dem Gastrosophen Harald Lemke hätte man allerdings erwarten können, dass er es besser weiß.
Tut er auch. Aber er ist nicht ehrlich. Er hat eine Vision und eine Mission. Dafür verdreht er die ihm bestens bekannten Fakten, schwindelt halt ein wenig – schwupps ist die ideologische Botschaft perfekt.
Herr Lemke weiß, was ankommt
Und das geht so: Harald Lemke ist ein Gastrosoph, also ein Kulturforscher, der sich mit der Philosophie des Essens beschäftigt. Er findet, dass „wir alle“ viel zu viel Fleisch essen und das nicht mehr oder zumindest sehr viel weniger tun sollten. Den Tieren und der Umwelt zuliebe.
Als Philosoph ist er allerdings nicht so unbedacht, einen veganen Totalverzicht zu fordern. Denn er weiß, dass das nicht gut ankommt, außerdem gehört er einem Club an, dessen Vereinspostille nach dem notorischen Genießer Epikur benannt ist. Also ist auch Herr Lemke dafür, dass Leben und Essen zumindest etwas Spaß machen sollten.
Nur unsere bisherigen Essvorlieben hält er für völlig verfehlt: diese „phantasiearme Fleischküche“. Fleisch, das sei bloßes „kulinarisches Konstrukt“, langweilig, reine Konvention aus mangelnder Neugier.
Fleischverzicht als kulturelle Weiterentwicklung?
Lemkes Mission ist ein genussvoller Vegetarismus, mit gemeinsamen Mahlzeiten, gemeinsamem Kochen und Nachdenken darüber.
Notwendig dazu gehört für Lemke der Abschied vom Fleisch:
Ich erhoffe mir ein langsames Absterben jener kulinarischen Tradition, die stumpf auf Fleisch setzt. Nur so können wir die Menschheit in ihrer kulturellen Entwicklung voranbringen.
Soweit Vision und Mission des Gastrosophen Lemke.
Vorab: Man kann dieser Meinung sein und sie ist ehrenhaft. Pädagogisch wertvoll, ethisch hochstehend.
Bei gemeinsamen Mahlzeiten, mit Genuss und kulinarischer Lebensfreude sowie Reden und Nachdenken über Essen, wie Lemke es beschreibt, bin ich übrigens dabei, ohne jede Einschränkung.
Ich bin ja auch in so einem Club. Für das gemeinsame Kochen bin ich jedoch nicht unbedingt, das kann auch sehr ins Auge gehen. Ich habe es lieber, wenn das Kenner übernehmen, sonst schmeckt es nicht – aber das gehört jetzt nicht hierher.
Und weder halte ich Fleisch für ein bloßes Konstrukt noch Fleischverzicht für eine kulturelle Weiterentwicklung. Aber egal, man muss ja nicht in allen Punkten einer Meinung sein.
Die Verteidigung des Tofu-Würstchens
Allerdings werde ich grätzig, wenn jemand mich hinters Licht führen will. Und Herr Lemke ist mindestens etwas unlauter. Denn als der Journalist Fred Langer ihn fragt, wie man von der Droge Fleisch wegkommen könne, antwortet der Philosoph, wie „wunderbar“ wir „von den Weisheiten der alt-asiatischen Küche“ lernen könnten.
Weil Langer etwas flapsig nachfragt, ob denn nun die Zukunft dem Tofu-Würstchen gehöre, fährt Lemke ihm in die Parade:
Es hat etwas Despektierliches, Tofu und Seitan zu schmähen, daraus spricht eine ideengeschichtliche Ignoranz gegenüber Hochkulturen, die sich über Jahrhunderte fleischlos ernähren – und sehr raffiniert. Fleisch? Braucht kein Mensch.
Eigentlich weiß er es besser
An diesem Punkt schwindelt Herr Lemke. Denn er weiß ganz genau, dass es keine einzige alt-asiatische Hochkultur gibt, die sich über Jahrhunderte fleischlos ernährt hat.
Er weiß auch, dass die alt-asiatischen Küchen samt und sonders voller Fleischrezepte sind. Je älter die Küche, desto mehr Fleisch ist drin, und zwar von allem, was da kreucht und fleucht.
Woher ich das wissen will? Nun, zum Beispiel von Herrn Lemke selbst.
Er schreibt ja Bücher und Artikel, die man lesen kann, er hat buddhistische Klöster besucht, er hat Rezepte von Einsiedlern ausgegraben und listet akribisch auf, was selbst die asketischen Zen-Mönche im alten China so alles goutierten: Hühner, Hasen, Fisch und Krabben sind das Minimum.
Die Fleischküche Chinas
Herr Lemke weiß auch genau, dass es im ganzen Buddhismus kein absolutes Fleischverbot gibt, auch nicht für Priester und Bettelmönche und nicht einmal den Dalai Lama. Tofu und Seitan wurden zwar in China erfunden, aber als Fastenspeise für Mönche.
So heißen die einschlägigen Gerichte auch heute noch, wenn man zum Chinesen geht. Ansonsten aß und isst man in China alles, was sich bewegt.
Die uralte chinesische Hochküche ist dabei eine der berühmtesten der Welt und sieht Fleisch aller Art vor, ihr Symbolgericht ist ein pompöser Entenbraten.
Nicht umsonst gehören die Chinesen heute zu den weltweit größten Produzenten von Schwein und Geflügel – weil ihre Esskultur das verlangt und immer mehr Chinesen das haben wollen, was zu ihrer jahrtausendealten alt-asiatischen Hochkultur gehört: Fleisch.
Von Nepal bis Japan, von Thailand bis Korea
Bei den Japanern wiederum, einem Inselvolk, das sich praktisch alles von China und Indien zusammen geklaubt hat, was es an Kultur brauchte, spielt das Essen in der Philosophie gar keine Rolle.
Das beklagt Herr Lemke in einem seiner Aufsätze übrigens bitter. Trotzdem spielt Essen im japanischen Alltag eine große Rolle, für die Menschen auf der Straße – schließlich gehört auch die Küche Japans heute zu einer der großen Küchen der Welt.
Und bekanntlich sind die Japaner keineswegs Vegetarier.
Sie verzehren exorbitant viel Fisch, weltweit mit am meisten, auch Walfisch, das ist Fleisch von Säugetieren. Sie haben immer auch alles andere gegessen, nur gab es die eine oder andere Regierung, die versucht hat, ihnen das madig zu machen. Hat aber nicht geklappt, das ist erwiesen.
Koreaner, Vietnamesen, Thais, Indonesier und wer immer sonst noch im weiten Asien am Kochtopf sitzt, schnetzeln eine unglaubliche Vielfalt an Tieren ins Essen, darunter Schlangen, Skorpione, Vogelküken, Insekten und Wasserwanzen. Es sind sämtlich Küchen mit Fleischtradition.
Mongolen, Nepalesen und Tibetaner erwähnen wir lieber gar nicht erst. Da gibt es praktisch nur Fleisch und Fett zu essen, weil da nichts anderes wächst.
Auf die Inder ist auch kein Verlass
Haben wir ein Land in Asien vergessen, eine Hochkultur nicht erwähnt? Richtig – Indien.
Aus Indien stammt alle östliche Weisheit, und wiederum eine der raffiniertesten Küchen der Welt. Genauer gesagt sind es mehrere Küchen, darunter fleischlastigere und vegetarische.
Doch die Hochkultur selbst und auch die Haupt-Religion, der Hinduismus, kennen kein absolutes Fleischverbot.
Das heißt: Wer Fleisch und Fisch essen muss oder will, weil seine Lebenssituation das verlangt, oder weil er einer entsprechenden Kaste angehört, der isst Fleisch und Fisch. Nur Rindfleisch ist tabu, weil Kühe als heilige Tiere gelten. Wobei in vedischer Zeit bis zur Zeitenwende viel Fleisch gegessen wurde, auch Rindfleisch.
Das ist alles. Ach ja, noch die Zahlen: Unter den Hindus gelten nicht mehr als 40 Prozent als Vegetarier.
Und nicht alle Inder sind Hindus, denn etwa 20 Prozent der indischen Bevölkerung sind Moslems, über 4 Prozent sind Christen, die Fleisch essen. Die Mogul-Küche im Norden ist sogar ausgesprochen fleischlastig, mit Spießen, Schmor- und Grillgerichten.
Weil es ein Riesenland ist und Befragungen schwierig sind, gibt es nur Schätzungen: Insgesamt soll nicht mehr als ein Viertel der 1,1 Milliarden Inder Vegetarier sein. Der Rest isst Fleisch.
Fleischloses Asien? Weniger als die halbe Wahrheit
Fassen wir also zusammen: In keiner der großen asiatischen Religionen und Philosophien, ob Hinduismus, Buddhismus, Daoismus oder Shintoismus, gibt es ein absolutes Fleischverbot.
Es gibt nur Askese-Vorschriften für Priester, Mönche oder besondere Sekten, Gruppen und Schichten von Menschen. Und es gibt keine einzige Hochkultur in Asien und der Welt, die sich komplett vegetarisch ernährt hätte, gar über Jahrhunderte. Oder die dem gesamten Volk Fleisch verboten hätte.
Herr Lemke weiß das alles. Warum erweckt er dann den Eindruck, dass es anders ist?
Wahrscheinlich liegt das an seiner Mission. Er will, dass die ganze Welt zum Vegetarismus konvertiert.
Dazu gibt er seinen Rat: Die Menschheit sollte sich am besten an den Speisevorschriften japanischer Klöster orientieren.
Vielleicht rät er das auch den Japanern selbst, denn er lehrt unter anderem an einer japanischen Universität. Und beklagt in seinen Schriften, dass gerade die Japaner immer mehr „mcdonaldisiert“ werden, anstatt sich an ihren alten Mönchen orientieren.
Man muss befürchten, dass die Japaner dazu keine Lust haben – wer will schon fasten wie ein Mönch?
Die Weisheit des Ostens
Aber wenn man ein wenig Nebel versprüht und von asiatischer Weisheit und antiken Hochkulturen raunt, zieht die Nummer zumindest im Westen besser.
Und Herr Lemke ist ja durchaus pragmatisch, wie dem Interview zu entnehmen ist. Trotzdem: Was fastende Mönche in buddhistischen Sekten essen, ist nicht die ganze östliche Weisheit – und schon gar nicht die Küche Asiens.
Es ist noch nicht mal die halbe Wahrheit. Aber man kann es ja mal versuchen – wobei Herr Lemke vielleicht ein wenig darauf spekuliert, dass die meisten Menschen sowieso denken: „Ja, diese Asiaten; leben nur von Reis und Gemüse, und es sind so viele … so viele können sich nicht irren.“
Stimmt. Sie irren sich nicht. Sie sind weise, diese Asiaten. Daher isst seit jeher die überwältigende Mehrheit von ihnen Fleisch.
©Johanna Bayer
GEO 3/2015 – das Interview mit Harald Lemke online
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Evelyn
Danke danke danke. Dass das mal jemand sagt. Die Vegetarier dürfen vo mir aus gerne das Fleisch weglassen. Aber diese Pauschalverurteilung von Fleischessern geht zu weit. Und ein guter Zweck ist das auch nicht.
Johanna Bayer
Danke, danke für den netten Kommentar! 🙂 Und bitte teilt Quarkundso.de in euren Netzwerken. Nächste Woche gibt es was Neues.
Viele Grüße
Johanna
mezzo
Vielen Dank – ich habe diesen Blogpost mit großem Vergnügen gelesen. Ich kann die Male nicht mehr zählen, bei denen ich selbst entweder in Gesprächen oder in Kommentaren zu entsprechend ideologisierten Artikeln versucht habe, darauf hinzuweisen, dass man in Asien keineswegs von früh bis spät Tofu isst und Soja schlürft. Meist vergebens, gegen Ideologien und Visionen kämpfen Götter selbst vergebens. Dabei bräuchte man wirklich nur ein durchschnittliches chinesisches, japanisches oder koreanisches Kochbuch aufzuschlagen und mal im Rezepteverzeichnis nachsehen, wie viel Fleischernes da normalerweise so vorkommt. Sehr schönes Anschauungsmaterial zum Thema bietet auch der Film „Eat Drink Man Woman“!!!
Ulrike Gonder
Sehr schön Johanna, mal wieder auf den Punkt gebracht und super geschrieben. Ich frage mich immer, wann Du das alles liest 😉
Johanna Bayer
Du meinst, wann ich dieses Zeug aufschnappe, etwa das GEO-Interview? Dauernd bleiben meine trüben Augen an irgendetwas der Art hängen und ich denke: Was für ein gefundenes Fressen… 😉 Gestern Abend Primetime, 20.15 gleichzeitig WDR, ZDF und 3Sat, das habe ich jetzt nicht geschafft, das muss ich nach und nach abarbeiten, hier auf Quark und so.
Aber vielleicht meinst Du, ich sollte das alles nicht lesen, um Zeit und Nerven zu sparen? Hast Du auch wieder Recht… 😉 aber dann muss ich den Blog schließen. Wo es doch gerade anfängt, Spaß zu machen…
Oder meinst Du Quellen und die Literatur, die ich für meine Argumentation verwende? Die lege ich mir bevorzugt nachts unter das Kopfkissen. Wenn es sich um komplizierte wissenschaftliche Aufsätze handelt, wird alles durch Diffusion und Sublimierung direkt ins Gehirn übertragen. Wenn es sich um dicke Bücher handelt, setze ich sie mir beim Essen auf den Kopf. Das verbessert auch die Haltung bei Tisch. Man kann sie sich auch unter die Ellenbogen klemmen, dann lernt man, vernünftig mit Messer und Gabel zu essen…. 😉 …. bin gerade alberner Laune. Verzeih. Du weißt ja, wie es ist… Liebe Grüße, mit Augenringen vom nächtlichen Lesen und Arbeiten… Johanna
Ingrid Lommer
Sehr schöner Text – toll konzipiert (und genau die richtige Länge! ;-)) und ich liebe die Seitenhiebe gegen den weit verbreiteten Glauben, dass alle Weisheit allein vom fernen Osten ausgeht. Nur eine Anregung hätte ich: Was ist mit Quellen? Bei ein paar Zahlen im Text (z.B. dass rund 40 Prozent der Hindus Vegetarier sind) hätte ich zugern gewusst, wo Du sie her hast.
Johanna Bayer
Liebe Ingrid,
ich gebe meistens keine Quellen an. Das hat System, ist also Absicht. Denn die anderen geben ja auch keine Quellen an, hihi… 😉 Aber für Dich: die Schätzungen stammen u.a. aus dem Fleischatlas, einem indischen Buch, zwei indischen Zeitungen und weiteren Quellen, darunter die WHO (World Health Organization).
Bettina
Großartiger Artikel. Danke!