Gefundenes Fressen

Die ZEIT, Krebs und Kohl: Hilft Brokkoli gegen die Killer-Krankheit?

Endlich Krebs heilen – diese Hoffnung weckt ZEIT online in einem Artikel über Kohl. Doch am Ende muss die Autorin die Karten auf den Tisch legen: Brokkoli heilt keinen Krebs. Quarkundso.de über einen wirren Beitrag mit Kitsch, Krebs und Gemüse.

Die ZEIT ist schon wieder dran, aber wir können nichts dafür, ehrlich!

Quarkundso.de reagiert nur. Wir sind der Blauwal unter den Foodblogs: Einfach mit weit offenem Maul im Ozean treiben lassen, das Futter schwimmt von alleine rein.

Zufällig ist also wieder was aus der ZEIT dabei, kurz nach dem Ding mit dem Alkohol. Diesmal ist der Anlass ähnlich plakativ, wenn auch viel ernster: Es geht um den Kampf gegen Krebs. Der Killer-Krankheit ist die Aufmerksamkeit des Publikums automatisch sicher – Krebs geht immer.

Das gilt besonders, wenn neue Medikamente auftauchen, und ganz sicher, wenn Wirkstoffe  darin aus Pflanzen stammen – bessere Klickköder gibt es nicht: Sanfte Heilung bei Krebs! So besiegen Sie den Krebs mit gesunder Ernährung! Krebs: Wie gesunde Lebensmittel helfen!

Ja, das wäre schön. Aber bisher hat noch niemand den Krebs endgültig besiegt, schon gar nicht mit Pflanzen. Oder mit Essen.

Handwerklich unter Standard

Die ZEIT will trotzdem Hoffnung wecken. Gleichzeitig will sie nichts Falsches sagen und viele Leser haben. Die Motive sind nachvollziehbar, aber Gutes entstehen kann aus dieser Gemengelage nicht.

Folglich ist der Beitrag etwas wirr: „Mit Brokkoli gegen Krebs“ lautet der Titel, die kühne Dachzeile darüber heißt: „Krebsvorsorge.“

 

Cleverer Köder: Screenshot DIE ZEIT-Online mit kühnem Titel und Teaser zu „Krebsvorsorge“

Wir wollen jetzt nicht auf Kleinigkeiten rumreiten, aber „Krebsvorsorge“ bedeutet Abstriche von Schleimhäuten oder Kot- und Gewebeproben und regelmäßige Röntgenuntersuchungen zwecks frühzeitiger Entdeckung von Tumoren. Nicht das Essen von Kohlgemüse.

Für ein Qualitätsblatt ein dämlicher Patzer – hallo, Redaktion? Gemeint war wohl „Krebsvorbeugung“ oder „Krebsprävention“, das Verhüten der Krankheit und Mindern des Krebsrisikos. Naja, Schwamm drüber. Leider geht es nicht gut weiter, denn es folgt ein öder Einstieg, die Autorin serviert Binsenweisheiten: „Seit es die Menschheit gibt, kennt sie Krebserkrankungen“, „Krebs zu heilen, ist seit Langem eine Vision der Medizin.“

Handwerklich ist auch das für ein Qualitätsblatt unter Standard.

Noch mehr sind es begriffliche Unschärfen wie die rund um „Wirkstoffe“ und „Mittel“. Eines davon soll angeblich dem US-Präsidenten Ronald Reagan das Leben gerettet haben:

1985 erregte ein solches Mittel Aufmerksamkeit in der Onkologie: Damals wurde der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan wegen eines bösartigen Tumors im Dickdarm operiert. Man fürchtete, dass der Krebs wiederkommen und Metastasen in anderen Organen bilden würde. Nach der Operation verordneten ihm seine Ärzte eine veränderte Ernährung und empfahlen ihm viel Brokkoli. Reagan lebte danach noch 19 Jahre, der Krebs kam nicht wieder. Wie viel Einfluss seine neue Diät daran tatsächlich hatte, ist unklar. Aber: Seitdem werden Brokkoli und seine Inhaltsstoffe intensiver erforscht.

Aber Brokkoli ist weder ein Wirkstoff noch eine Arznei noch ein Medikament, wie es der Gebrauch des Wortes „Mittel“ hier nahelegt.

Und 1985 war Reagan der amtierende Präsident, falsche Zeit-Perspektive (hallo, Redaktion?)

 

Was Reagan geholfen hat: eine radikale Darmoperation

Logo Goldener Blogger

Die Goldenen Blogger: Nominiert als einer der vier besten Foodblogs 2015

Auch sonst stimmt die zeitliche Logik nicht – hier hat sich das Ressort Dokumentation und Recherche bei Quarkundso.de ins Zeug gelegt:

Die ersten Beobachtungsstudien und Spekulationen zu Kohl und Darmgesundheit gibt es mindestens schon seit den 1970er Jahren, nicht erst seit der Darmoperation des Ronald Reagan 1985.

Sonst wäre ja niemand auf die Idee gekommen, Reagan den Tipp mit der Brokkoli-Diät zu geben.

1985, als der Präsident operiert wurde, war aber nicht von hilfreichen Kohlsorten die Rede, sondern davon, dass die Aussichten des Patienten zum Glück noch sehr gut waren:

Er hatte keine Metastasen, und er stimmte einer radikalen Operation zu – 60 Zentimeter seines Dickdarms schnitten die Ärzte heraus, fast zwei Drittel.

Bei dem Krebstyp, der im Darm von Reagan saß, standen laut seinem damaligen Chirurgen die Überlebenschancen bei 98 Prozent, berichtete der Spiegel schon damals, 1985.

Darmpolypen trotz Brokkoli

Reagan lebte dann noch rund 20 Jahre und starb 2004 mit 93 Jahren. Erst dann hätte man, wenn überhaupt, davon reden können, dass die ominöse Gemüsekur einen neuen Darmkrebs verhindert haben könnte. Nicht schon 1985.

Doch auch die 19jährige Beobachtungsstudie an einem einzelnen Patienten macht den Kohl nicht fett: Trotz Brokkoli-Diät hat Ronald Reagan nach der großen Operation weitere Polypen bekommen, berichtet der amerikanische Medizinprofessor Allen B. Schwartz von der Drexel University 2017. Er hat die Krankengeschichte aufgearbeitet.

Laut Schwartz hatte man nach der Operation das spezielle Risiko des Präsidenten im Auge: In dessen Familie war Darmkrebs schon vorgekommen. Daher untersuchte man Reagan nach der Operation 1985 regelmäßig, entdeckte die neuen Polypen früh und schnitt sie heraus, bevor sie bösartig werden konnten.

Mediziner in den USA schreiben die lange Lebenszeit von Ronald Reagan daher vor allem den Operationen und dem Fortschritt der Chirurgie zu. Besonders stolz sind dabei die Militärärzte der Navy, die den Präsidenten operiert haben.

Kohl, Kitsch und Hoffnung

Trotz der gut belegten Krankengeschichte geistert die Legende vom Krebskiller Brokkoli und Ronald Reagan noch immer durch das Internet, vor allem auf Vegetarierportalen.

Das ist kein Wunder.

Denn als Quelle für die Story lässt sich interessanterweise eine einzelne Forscherin ausmachen: Ingrid Herr, selbst Biologin und Chirurgie-Forscherin an der Uniklinik Heidelberg. Sie hat die Geschichte vom Brokkoli und Ronald Reagan vor Jahren für eine Patientenpostille verfasst.

Die Journalistin von der ZEIT hat die Story eins zu eins übernommen.

Nun ist die Legende für einen ebenso kitschigen wie irreführenden Aufhänger vielleicht gut. Was es mit dem Kohl aber wirklich auf sich hat, offenbart sich im hinteren Teil des ZEIT-Artikels: Nicht viel.

Denn Frau Herr forscht schon lange an Gemüse, auch andere tun das seit den 1970er Jahren. Ein Medikament gegen Tumore aus Gemüsesorten wie Brokkoli ist aber bis heute nicht in Sicht.

Ausnahmslos alle Expertinnen, die die ZEIT-Autorin interviewt hat, einschließlich Ingrid Herr selbst, betonen daher, dass man Krebskranken keine Hoffnung auf ein Kohlwunder machen sollte.

Auch das Deutsche Krebsforschungsinstitut, das DKFZ in Heidelberg, winkt ab: Brokkolipillen, Kohlpulver oder Rosenkohlkuren heilen oder verhüten Krebs nicht und es ist unabsehbar, ob das jemals der Fall sein kann.

Wie das Investigativ-Ressort von Quarkundso.de herausgefunden hat, musste Kronzeugin Ingrid Herr sogar eine Warnung auf die Seite ihres Instituts stellen, um verzweifelte Patienten zu beruhigen. Die stürmen nämlich die Uniklinik Heidelberg, weil sie sich von der Kohlforscherin und ihrem Brokkoli-Extrakt Rettung erhoffen.

PATIENTENINFORMATION

Screenshot von der Seite der Universitätsklinik Heidelberg mit Text der Patienteninformation von Prof. Dr. Ingrid Herr.

ZU DEM BROKKOLI-INHALTSSTOFF SULFORAPHAN UND WEITERE WERTVOLLE TIPPS FÜR EINE GESUNDE ERNÄHRUNG

Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient,

herzlichen Dank für Ihr Interesse an unserer Forschungsarbeit zu dem Brokkoli-Inhaltsstoff Sulforaphan. Bevor wir Ihnen an dieser Stelle Informationen über Nahrungsmittel mit Sulforaphan und weitere interessante Fakten rund um das Thema Ernährung und Krebs zu Verfügung stellen, müssen wir Sie darauf hinweisen, dass wir die Wirksamkeit gegen die besonders aggressiven Tumorstammzellen des Bauchspeicheldrüsenkrebs erst in Laborversuchen zeigen konnten.

Auch wenn die vorliegenden Ergebnisse vielversprechend sind, können Sie erst in die Behandlung von Krebspatienten überführt werden, wenn ausreichend Daten aus Studien mit Patienten vorliegen. Unabhängig von den erwarteten Studienergebnissen können Sie Sulforaphan über die tägliche Ernährung aufnehmen.

Das hat die Professorin jetzt von ihrer guten Pressearbeit.

Darmkrebs: Brokkoli und Kohl heilen nicht

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Wissenschaftsblog 2015: Sonderpreis der Redaktion „Wissenschaft kommuniziert“

Ansonsten beschäftigt sich Ingrid Herr nicht speziell mit Darmkrebs, und sie ist auch keine Ärztin oder Expertin für Ernährung. Sie ist studierte Biologin und auf einzelne Signalwege von Tumorzellen spezialisiert, vor allem beim Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Daran untersucht sie, ob und wie bestimmte Inhaltsstoffe von Gemüse oder Obst die Zellen anfälliger für eine Chemotherapie machen.

Ihr Ziel ist es, die Chemotherapie zu verbessern. Mehr nicht – wobei das viel ist, wenn Krebs das Leben bedroht.

Aber gerade weil es um Menschenleben geht, empfehlen bisher weder die Leitlinien für die Behandlung von Darmkrebs noch andere Krebs-Leitlinien Brokkoli und Rosenkohl.

Sie empfehlen ganz andere Dinge: Abnehmen. Nicht rauchen. Auf Alkohol verzichten.

Das sind die größten Risikofaktoren sowohl für Darm- als auch für Bauchspeicheldrüsenkrebs und weitere Krebsarten. Dann noch regelmäßige Früherkennung – und im Ernstfall heißt es ab auf den Operationstisch und rein mit der Chemiebombe in den Körper.

Wenn das noch geht. 

Die Pharmaindustrie ist Schuld

Aber die Naturfreunde geben nicht auf. Nachdem der ZEIT-Artikel mit großen Versprechungen begonnen hat, endet er mit ernüchternden Fakten. Die aber will die Redaktion nicht einfach so stehen lassen.

Am Schluss, nachdem alle Hoffnung auf rettenden Kohl dahin ist, beharrt daher die Autorin:

„Auch wenn bisher nicht erwiesen ist, dass Brokkoli und Co. vor Krebs schützen oder bei der Behandlung hilfreich sind: Gesund sind Blumenkohl, Brokkoli und Senf sowieso.

Vor dieser Binsenweisheit watschen Autorin und Expertinnen im Beitrag noch die Pharmaindustrie ab: Die werde sicher nicht große Studien mit Kohl aufsetzen, um ein echtes Medikament zu entwickeln. Für die Konzerne lohne sich das nicht, weil sich Brokkoli und andere Naturstoffe nicht patentieren lassen und kein großes Geld zu machen ist.

Noch eine Plattitüde, und dazu ein Schlenker, der ziemlich weh tut.

Denn Ingrid Herr selbst arbeitet gezielt daran, die Chemotherapie zu verbessern – ohne Pharmaindustrie gäbe es die nicht. Eines der Krebs-Medikamente, deren Wirkung zusammen mit Kohlextrakt Ingrid Herr untersucht hat, ist Sorafenib. Entwickelt hat es der Pharmariese Bayer AG.*

Was vor Krebs wirklich schützt

Wenn Brokkoli aber selbst so ein vielversprechender Kandidat wäre, könnte, ja, müsste doch der Staat einsteigen, oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die sich aus Steuergeld finanziert.

Doch auch die DFG fördert keine Kohlforschung im großen Stil – schlicht, weil Gemüse zwar irgendwie gesund ist.

Aber gegen Krebs hilft kein Kohl.

Vorbeugen, ja, das kann man allerdings – mit einem möglichst gesunden Lebensstil: Normalgewicht, genügend Bewegung, vernünftige Mischkost, wenig Alkohol, nicht rauchen.

Das Patent darauf hat Oma.

©Johanna Bayer

 * Disclaimer: Die Chefredakteurin ist mit dem Konzern weder verwandt noch verschwägert. Auch steht sie nicht auf dessen Gehaltsliste. Das wiederum ist Absicht.

 

Artikel „Krebsvorsorge: Mit Brokkoli gegen Krebs“ in der ZEIT, Ressort Wissen

DER SPIEGEL 1985 über die Darmkrebsoperation von Ronald Reagan

 

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