ARTE erzählt in einer langen Doku die Geschichte der Vegetarier von der Antike bis heute. Die „grande histoire“ entpuppt sich dabei als Chronik von Sekten, Asketen, Eiferern und Einzelgängern – und am Ende siegt das Fleisch
Menschen wollen Geschichten hören und Medienleute wissen das: Die Story ist alles, und das Narrativ muss zur Botschaft passen.
So bastelten sich auch die ARTE-Redakteure für eine große Doku wohl den Dreh zurecht, der die Geschichte der Vegetarier erzählen soll, natürlich die große: „L’adieu à la viande: la grande histoire des végétarieriens“.
Übersetzt: „Abschied vom Fleisch: Die große Geschichte der Vegetarier“, wie der französische Originaltitel lautet. „Fleischlos glücklich – die Geschichte der Vegetarier“ ist der deutsche Titel.
Der Trailertext kündigt den Zuschauern einen Siegeszug an:
„Vegetarische Ernährung liegt voll im Trend. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Erfindung der Moderne: In der Geschichte gab es zahlreiche Persönlichkeiten und Bewegungen, die auf den Verzehr von Fleisch und Fisch verzichteten, von den indischen Jain-Mönchen über römische Philosophen bis zu den Mitgliedern der ersten „Vegetarian Society“, die 1847 in London gegründet wurde.
Doch diese Jubel-Arie führt auf die falsche Fährte.
Zwar fängt die Vegetarier-Chronik in der Antike an und reicht bis in die Gegenwart. Autor Martin Blanchard erzählt auch filmisch aufwändig, er hat gründlich recherchiert und die Crème de la Crème aus Kultur- und Sozialwissenschaften befragt.
Darunter ist der großen italienische Historiker Massimo Montanari. Er gilt als der wichtigste Kenner europäischer Esskultur. Dazu kommen Philosophinnen, Soziologen, Anthropologinnen und Religionsgelehrte.
Mit der Evolution ist die Sache auserzählt
Die große Geschichte fehlt allerdings, genauer: das Große an der Geschichte fehlt. Denn die Story ist zwar lang, aber für die absolute Mehrheit der Menschen war und ist vegetarische Ernährung ebenso unattraktiv wie sie historisch bedeutungslos war.
Schon in der Entwicklungsgeschichte war Fleischverzicht keine Option, das ist eindeutig. Im Sprechertext klingt an, dass man sich das anders vorgestellt hat – es muss doch Vegetarier schon immer gegeben haben! Aber da ist nichts, stellt der Sprechertext ernüchtert fest:
„Trotz der landwirtschaftlichen Revolution, die vor 11.000 Jahren ihren Anfang nahm, finden Wissenschaftler bis heute keine Hinweise auf prähistorischen Gruppen, die völlig auf Fleisch verzichtet hätten“.
Damit ist die Geschichte des Fleischverzichts eigentlich auserzählt.
Denn was sollte da noch kommen? Welche Legitimation hat Fleischverzicht oder reine Pflanzenkost, wenn sie in der Evolution der menschlichen Ernährung offensichtlich keine Rolle spielten?
Gesunde Ernährung ist nicht das Thema
Diese ARTE-Doku handelt aber nicht von Ernährung oder von ernährungsphysiologisch richtigem, artgerechtem Essen, oder von Gesundheit.
Stattdessen geht es um die Moral.
Dass Menschen biologisch Allesfresser sind, wie Massimo Montanari anfangs im Interview sagt, nutzt der Autor als ethische Leitfrage: Wir sind Allesfresser und können wählen, was wir essen – warum also Fleisch, wenn dafür Tiere sterben müssen?
Die weitere Spurensuche in vegetarischen Dogmen oder Lebensformen folgt ausschließlich diesem Faden, nämlich der bewussten Entscheidung gegen Fleisch aus ethischen und religiösen Gründen.
Kein Siegeszug durch die Weltgeschichte
Und von Anfang klingt es so, als sie die Entscheidung gegen Fleisch rein moralisch schon gefallen und notwendig. Gegenstimmen kommen nicht zu Wort.
Mit Religion, wie sollte es anders sein, geht es los, die Chronik beginnt bei einer hinduistischen Splittergruppe, den Jains in Indien. Ihre Mitglieder leben das Prinzip absoluter Gewaltlosigkeit und meiden deshalb viele tierische Nahrungsmittel.
Dann geht es über die Antike zu Buddhisten und frühchristlichen Fastengebote bis zu Voltaire, es folgt die Ära der Sanatorien und Reform-Kliniken des 19. Jahrhunderts, in denen Ärzte Pflanzenkost verordneten.
Der Durchlauf bestätigt aber nur, dass Pflanzenkost in der Weltgeschichte kein Siegeszug, sondern allenfalls religiöse Praxis für kleine Gruppen oder gleich eine Angelegenheit von Einzelgängern war.
Vegetarier in der Antike: ein Märchen
Tatsächlich ist es deshalb interessant, diese detailreiche Zeitreise zu Denkern, Zeugen und Aktivisten anzuschauen.
Denn alle beißen letztlich auf Granit, sind nicht konsequent mit dem Vegetarismus oder gleich nur ein Phantom, etwa im Fall des griechischen Mathematikers Pythagoras.
Dass der angeblich auf Fleisch verzichtete und die erste vegetarische Lebensgemeinschaft der Antike gründete, ist, anders als oft kolportiert, gar nicht belegt, zeigt Blanchard.
Noch dazu wurden Vegetarier in der ganzen Antike verspottet, allenfalls versuchte es mal ein Philosoph wie Seneca für begrenzte Zeit.
Auch empfiehlt keiner der berühmten antiken Ärzte vegetarische Kost, weder Hippokrates noch Galen noch der kräuterkundige Dioskurides oder einer der Römer. Fleisch war immer Bestandteil der empfohlenen Ernährung.
Kein Fleischverbot in Indien und Japan
Nicht einmal die oft beschworenen Inder sind sichere Gewährsleute, obwohl sie als Muster-Vegetarier herhalten müssen. Doch das sind sie gerade nicht, auch wir haben unsere Qualitätsleser schon vor Jahren darauf hingewiesen. Bitte hier nachlesen, wird abgefragt.
Im ARTE-Film stellt ein Religionswissenschaftler jedenfalls klar, dass Fleischverzicht in Indien immer eine Frage der Macht und der Abgrenzung war.
Möglich nur für eine kleine Oberkaste, die es sich leisten kann, Vielfalt, Fett, Milchprodukte und genügend hochwertiges pflanzliches Eiweiß auf den Teller zu bringen. Für niedere Kasten ist das bis heute unerschwinglich und keine Vorschrift.
Insgesamt gab und gibt es weder im Hinduismus noch im Buddhismus ein absolutes Fleischverbot, auch nicht für höchste Priesterkasten wie die Brahmanen.
Die tierische Lust
Das räumt der Sprechertext ein, ein buddhistischer Mönch bestätigt im Interview: „Wir können selbst entscheiden, wir essen das, was verfügbar ist (…) was schon tot ist, dürfen wir essen“.
Vom Mittelalter bis in die Neuzeit feierte man Fleisch als Lebenskraft, selbst die mächtige Kirche bekam diese tierische Begierde nicht in den Griff, trotz zahlreicher Fastengebote.
An den christlichen Vorschriften zur Askese lässt sich übrigens erkennen, wie wichtig, begehrt und beliebt Fleisch als Nahrungsmittel war – und welche Lust beim Essen es verleiht, nämlich Geschmack und Sättigung.
Selbst Voltaire, der zu den Vordenkern der Tierwohlbewegung gehört und das Schlachten als barbarische Praxis bezeichnete, lebte nicht vegetarisch.
Schrullig, abgezehrt, asketisch
Danach erscheint in der bunten Chronik ein Sonderling nach dem anderen: der schrullige Hippie-Papst Bill Pester, der als Eremit in Kalifornien lebte, weitere „bärtige Exzentriker“ (Sprechertext), dazu Fanatiker, die es übertreiben.
Das trifft auf die zwanghafte Anführerin der Lebensreform-Bewegung auf dem Monte Verità im Tessin zu, Ida Hofmann. Von ihr stammt einer der Aussprüche, der heute noch unter Veganern kursiert: „Fleisch essen ist Leichenfraß“.
Auch die Vorzeige-Figur Mahatma Gandhi bietet als abgezehrter, dauerfastender Asket kein strahlendes Bild der Gesundheit.
Nebenbei bemerkt, und nicht im Film: Von Jugend an hielt der indische Nationalheld strenge Fastenrituale ein und aß nicht nur vegetarisch, sondern bewusst einfach.
Das hat sich ausgewirkt, seine Krankenakte steht heute öffentlich online: Gesund war er seiner Lebtag nicht, Gandhi litt unter anderem an Verstopfung, hohem Blutdruck, Untergewicht und Eisenmangel.
Nahrhaft und wertvoll: Fleisch aus Sicht der Medizin
Bis in die Neuzeit bekamen Vegetarier im Westen keinen Fuß auf den Boden. Auch ihre prominenten Protagonisten im 19. Jahrhundert kamen nicht ganz ohne Fleisch aus.
Das gilt etwa für den asketisch lebenden John Harvey Kellogg, der 1876 sein „Battle Creek Sanitarium“ eröffnete. Dort wurde schnell klar, dass die Patienten bei reiner Pflanzenkost Reißaus genommen hätten, daher erlaubte Kellogg Fleisch in seiner Diät.
Die Medizin hatte ohnehin eine klare Position, Ärzte lehnten die aufkommende Vegetarier-Bewegung im England des 19. Jahrhunderts argwöhnisch ab. O-Ton eines britischen Historikers im ARTE-Film:
„Vegetarische Ernährung galt nicht nur als seltsam und bizarr, sondern sogar als gefährlich. In Zeiten erhöhten Energiebedarfs – einer Rekonvaleszenz oder Schwangerschaft – auf Fleisch zu verzichten, wird als medizinisch unangebracht betrachtet, sogar als lebensbedrohlich.“
Lustig oder? Der O-Ton soll eine altmodische, vernagelte Sicht des 19. Jahrhunderts beschreiben – doch der Wert von Fleisch für Kranke, Schwangere, Verwundete und Geschwächte ist Medizinern auch heute wohl bewusst, wegen seines Proteins. Das gilt besonders für die Wundheilung, nach Operationen und bei Verbrennungen.
Zum Subtext an der Stelle passt das freilich schlecht. Da wirkt der O-Ton sogar unfreiwillig komisch.
Reine Pflanzenkost reicht nicht
Vegetarier, heißt es an anderer Stelle, hätten „gezeigt, dass der Mensch alle notwendigen Proteine und Nährstoffe auch durch Pflanzen, Milchprodukte und Eier aufnehmen kann“.
Eine Soziologin zitiert dazu aus der Doktorarbeit einer der ersten Ärztinnen Englands, der Vegetarier-Aktivistin Anna Kingsford von 1880. Sie schließt im O-Ton mit dem Fazit:
„Es ist also klar erwiesen, dass pflanzliche Stoffe nicht nur alle notwendigen Elemente enthalten, sondern sogar mehr davon als tierische Stoffe“
Tja. Das ist im Kern falsch, heute wie früher, was der Autor des Films nicht richtig stellt.
Zum Glück ist die Stelle klar im historischen Kontext zu sehen, die Soziologin referiert nur, was Anna Kingsford 1880 befand. Sonst wäre es wohl schwierig, das vor einer Redaktion zu rechtfertigen.
Schließlich raten Mediziner und Ernährungsfachleute immer noch von der rein pflanzlichen – veganen – Ernährung ab, wenn es um Kinder, Schwangere, Stillende, Alte oder chronisch Kranke geht.
Kein Fleisch ist keine Lösung: die Debatte
Was übrig bleibt von der „grande histoire“, nach Abzug der religiösen Dogmen, karmischer Jenseitsvorstellungen und Idealen von Reinheit und Askese ist eine Ideengeschichte, in deren Zentrum die Tierrechte stehen.
Hier sieht Filmemacher Blanchard die vegetarischen Aktivisten als Impulsgeber dafür, „unsere Ernährungsgewohnheiten in Frage zu stellen“.
Das ist sicher richtig, zugunsten des Fleischverzichts entschieden ist diese Sache aber nicht. Das gilt gerade, weil Menschen nach wie vor – und noch mehr – Fleisch essen wollen: Der Fleischkonsum steigt weltweit.
Vegetarier werden, so das realistische Fazit von Massimo Montanari am Ende des Films, wohl immer in der Minderheit bleiben.
Versöhnlich endet der Film aber mit Zen-Praktiken für einen bewussten Genuss und für die Wertschätzung von Lebensmitteln.
Frisierte Narrative helfen nicht
Dass wir dabei die Reserven des Planeten schonen müssen, liegt in unserem eigenen Interesse, auch das ist Thema im letzten Teil des Films: Umweltschutz, Klimakrise und der Beitrag der Massentierhaltung dazu sind aber ein ganz neuer und unabhängiger Aspekt. Sie haben mit der Ideengeschichte des Vegetarismus nichts zu tun.
Welche Folgen unser Konsum insgesamt hat, darunter Fleisch, ist ein übergreifendes Thema.
Dass wir Tiere, die wir schlachten, nicht elend dahin vegetieren lassen oder gar quälen, ist aber selbstverständlich eine ethische Pflicht. Tierleid und Missstände in Schlachthöfen sind abzuschaffen, keine Frage.
Frisierte Narrative von interessierten Kreisen und das Aufblasen der vegetarischen Bewegung helfen dabei aber nicht. Eine vernünftige, rationale Debatte darüber, wie wir Fleisch essen, wie viel davon und wie wir Tiere halten, ist für uns alle heute essenziell.
©Johanna Bayer
Ja, doch durchaus – bitte anschauen: ARTE-Doku „Fleischlos glücklich“ in der Mediathek
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