Der stellvertretende Feuilletonchef der FAZ, Strobel y Serra, wettert gegen die Lebensmittelindustrie. Kann man machen. Aber Falsches zu behaupten, um die eigenen Thesen zu begründen – das geht selbst in einem Meinungsbeitrag nicht.
UPDATE: Antwort aus der Charité zur Recherche der FAZ siehe unten
Die FAZ ist schon wieder dran, dafür können wir aber nichts. Die haben kurz hintereinander Beiträge zu Ernährung rausgehauen, als hätten sie sich verabredet: „Wir müssen etwas tun. So geht es nicht weiter. Wir tragen doch Verantwortung!“
Es sieht ganz nach einer konzertierten Aktion aus: Deutschland muss gesünder werden, die Menschen schlanker, das Leben leichter, die Alten älter, die Jungen schöner und alle schlauer.
Tatsächlich kommt sowas vor, dieses Festlegen großer Linien als eine Art Hauspolitik. Natürlich dürfen es dann nur berechtigte Ziele sein. Gesundheit, Klima, Menschenrechte, Artenvielfalt, Planetenrettung, sowas.
Nicht das, wofür die FAZ früher stand, Wirtschaft, Finanzen, konservatives Weltbild, Eigenverantwortung, bürgerlicher Leistungskram.
„Wollen wir uns wirklich zu Tode essen?“
So hat, noch vor dem merkwürdigen Interview zum „gesunden Frühstück“ mit dem Fastenprediger Andreas Michalsen, der stellvertretende Leiter des Feuilletons eine Kampfschrift losgelassen.
Der Text von Jakob Strobel y Serra ist ein Brandbrief zu den Essgewohnheiten der Deutschen und gegen ihre Lieblingsprodukte: „Wollen wir uns wirklich zu Tode essen?“, fragt der Titel.
Der Vorspann behauptet: „Vor allem hochprozessierte Lebensmittel „richten immensen Schaden an“, im Text heißt es, beim Essen geben wir „kollektiv unseren Verstand ab, verhalten uns wie in der Steinzeit und werden verführt von einer skrupellosen Industrie“.
Die Industrie nämlich produziere „ultra-schmackhafte“ Superware, die so in der Natur nicht vorkomme.
Fastfoodbuden jagen damit den Blutzuckerspiegel der Kunden in die Höhe, der danach massiv abfällt, so dass die Opfer gar nicht mehr aufhören können, ist ja alles so lecker, hier. Parade-Beispiel und „Menetekel“ sind moderne Apfelsorten, vom Autor „Frankenstein-Äpfel“ genannt.
Die Folge:
„Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Fettleber, Herzinfarkt, chronische Nierenerkrankungen, alle Zivilisationskrankheiten und obendrein Abhängigkeit und Geschmacksverlust“.
Wenn wir nicht radikal umkehren, drohe uns
(…) „eine düstere Zukunft, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass uns allein die Deindustrialisierung unserer Lebensmittel und unserer Ernährung retten kann.“
Ernährungsminister beeindruckt, Industrie entsetzt
Carsten Knop, Herausgeber der FAZ, hat dieses Stück Anfang April im Newsletter auf allen Kanälen beworben, das steile Ding schlug Wellen bis ins Bundesernährungsministerium BMEL.
Auf Tagungen diskutierten Ernährungsfachleute, der grüne Minister Özdemir zitierte den Beitrag „der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in einer Rede. Und die Industrie war natürlich sauer.
Eine solche Fülle von Vorwürfen ist wahrlich schwer zu verkraften.
Dass dazu echte Belege fehlen, haben einige Fachleute sofort angemerkt, etwa der Lebensmittelchemiker Daniel Wefers von der Universität Halle und der Biochemiker und Ernährungswissenschaftler Günter Kuhnle, Universität Reading, beide auf Twitter.
Wefers schreibt: „Gratulation an die @faznet für den glaube ich schlechtesten Artikel zu Lebensmitteln, den ich je gelesen habe“ (Originaltext), und hängt einen langen Strang an, in dem er vor allem die nicht belegten Behauptungen zu hochprozessierten Lebensmitteln kritisiert.
Gunter Kuhnle, Biochemiker und Professor für Ernährungswissenschaft, bezeichnete den Beitrag als „Musterbeispiel für schlechten Journalismus“.
Wie ist sowas möglich?
Sofern es um hochprozessierte Lebensmittel geht, haben wir diesen Faktenchecks nicht allzu viel hinzuzufügen.Wir sagen überhaupt nur etwas, weil wir gefragt wurden.
Betroffene und Interessierte wollten nämlich vom führenden Fachblog für Ernährungsthemen in den Medien, wissen, wie so etwas möglich sei: Wie ein „Reisejournalist“ dazu komme, sich derart über Ernährung zu äußern, ohne jede Rücksicht auf Fakten oder einen eventuellen Schaden durch Schlechtreden.
Daher versuchen wir, für unsere Qualitätsleser aus Redaktionen, Ämtern, Institutionen und Unternehmen noch in der Urlaubszeit ein paar Antworten zu liefern.
Ein Debattenbeitrag mit viel Meinung
Erste Klarstellung: Der Beitrag ist ein Meinungsstück, erschienen im Feuilleton in einer Rubrik namens „Debatte“. Dort bietet das Blatt Positionen einzelner, profilierter Stimmen.
Und Meinung heißt nur Meinung – die ist subjektiv, kann auch aus eigenwilligen Schlüssen bestehen und kommt gelegentlich scharf daher.
Deshalb sind Beiträge aus diesem Genre, etwa Kommentar, Glosse, Leitartikel die Königsdisziplin im Journalismus, oft erfahrenen oder besonders qualifizierten Autoren vorbehalten.
Denn im Thema muss sich schon auskennen, schließlich soll ein Kommentar oder Leitartikel den Lesern dienen, ihnen Orientierung geben, die Lage für sie einordnen.
In Meinungsbeiträgen sollten Autoren daher die eigenen Schlüsse und Voraussetzungen überzeugend begründen, hat Claudius Seidl, früher ebenfalls bei der FAZ im Feuilleton, mal erklärt.
Darauf kommen wir noch zurück.
Konsens: Frisches ist besser als Dosenware
Zuvor geht es noch kurz um die Frage der Qualifikation. Strobel y Serra hat nichts mit Ernährung oder Medizin studiert, das muss aber auch nicht sein.
Ausgewiesene Redakteure verstehen was von dem Fach, in dem sie schreiben und beherrschen das Handwerk. Sie können auch vernünftig recherchieren, außerdem gibt es als Qualitätskontrolle noch Redaktionskollegen und in großen Häusern die Abteilung Dokumentation. Normalerweise.
Das sehen wir uns gleich genauer an, vorab möchten wir aber etwas klarstellen: Man kann selbstverständlich der Meinung sein, dass die Menschen mehr kochen und weniger Fertigprodukte verwenden sollten.
Man kann auch gegen industriell erzeugte Lebensmittel sein und sagen, dass deren standardisierter Geschmack zu einer Verarmung führt.
Speziell die letzten Sätze des FAZ-Artikels würden wohl alle unterschreiben:
Wir müssen uns wieder die Zeit nehmen, mit guten, frischen, natürlichen Zutaten zu kochen … Wir müssen begreifen, dass Geschmack, Gesundheit und Glück Geschwister sind. Das und nichts anderes muss unsere Zukunft sein.
Wer wollte da widersprechen?
Die Chefredakteurin ist selbst aktives Mitglied bei Slow Food, dem Verein für Esskultur, guten Geschmack und traditionell handwerklich hergestellte Lebensmittel.
Ein Anfang mit Knalleffekt
Wer aber eine Debatte sinnvoll führen will, sollte die Lage nicht verzerren und nichts Falsches behaupten. Die Argumente müssen schon stimmen.
Pauschale Anschuldigungen sowie das Zeigen auf einen einzigen Schuldigen – die Industrie! – ist unterkomplex. Das Präsentieren einer einzigen Lösung für alles – Deindustrialisierung! – führt in die Irre.
Dieser Meinungsbeitrag in der FAZ endet aber nicht nur mit einer dramatisch einseitigen und unrealistischen Schlussfolgerung. Auch die Voraussetzungen stimmen nicht, von Anfang an.
Der Anfang ist hier aber wichtig und dramatisch so pointiert, dass wir diesen exemplarisch analysieren möchten. Generell setzt im journalistischen Schreiben der Anfang den Ton, zeigt den Horizont auf. Erst recht hier, wo das Beispiel am Anfang die Folie für die ganze Argumentation darstellt.
In diesem Fall sind es Äpfel: Moderne Sorten nennt Strobel y Serra „Frankenstein-Äpfel“, „vergiftete Geschenke zur Profitmaximierung“, gar „Menetekel“ für den Untergang der kulinarischen Zivilisation.
Sind es „die Industrieäpfel“?
Denn, so der Autor, „inzwischen“ seien Apfelallergien „sprunghaft angestiegen“,. Menschen reagierten, sagt Strobel, auf moderne Apfelsorten allergisch, weil den „Industrieäpfeln“ sekundäre Pflanzenstoffe fehlen. Diese seien gezielt herausgezüchtet worden, die optimierten Früchte enthielten massenhaft allergieauslösende Eiweiße, dafür weniger schützende Stoffe.
In alten Sorten stecken die nützlichen Stoffe noch – doch in den Supermärkten gibt es diese nicht mehr, die Agrarindustrie habe sie „aussortiert“.
Bei seiner Schilderung bezieht sich Strobel y Serra auf eine Studie von Allergologen der Berliner Charité.
Zehn bis zwanzig Prozent der Deutschen leiden nach seriösen Schätzungen inzwischen unter einer Apfelallergie, eine sprunghaft gestiegene Zahl, die sich die Ärzte lange nicht erklären konnten und der die Allergologen von der Charité in Berlin auf den Grund gehen wollten.
Sie ließen Apfelallergiker erst handelsübliche Früchte aus dem Supermarkt essen, mit allen zu erwartenden Reaktionen. Dann gaben sie ihnen unverfälschte Ursorten von alten Streuobstwiesen, wunderten sich, dass sie von ihren Probanden problemlos toleriert wurden, und kamen dem Rätsel schließlich auf die Spur: Die Agrarindustrie hat Hunderte alter Sorten aussortiert, um sie durch eine Handvoll neuer Züchtungen mit wundersamen Eigenschaften zu ersetzen.
Die Story klingt glaubhaft: So gehen Forscher vor, so könnte es gewesen sein, man sieht sie vor sich, die giftgrünen Granny-Smith-Äpfel, an denen Kinder fast ersticken, das muss man aufdecken!
Denn längst ist Volkswissen, dass die Industrie gezielt natürliche Lebensmittel verdrängt, um uns ihre ungesunde, oberflächlich gefällige Retortenware zu verhökern.
Das Drama ist konstruiert
Nur ist alles an dem Beispiel falsch. Die Zahlen stimmen nicht. Und die Studie der Charté Berlin, auf die sich Strobel y Serra bezieht, hatte ein anderes Ziel, die Zusammenhänge sind falsch geschildert.
Richtig ist: In Deutschland leiden laut der Charité-Studie etwa 3,5 Millionen Menschen an einer manifesten Apfelallergie mit Symptomen wie Brennen und Jucken im Mund.
Das sind weniger als fünf Prozent der Deutschen – nicht zehn bis zwanzig Prozent, wie in der FAZ behauptet.
Andere Schätzungen gehen von 2,5 Millionen Menschen aus, wieder andere sogar nur von einem bis zwei Prozent, das wären unter zwei Millionen Bundesbürger.
Zur Studie ist zu sagen: Beschreibung von Ansatz, Ziel und Hypothese stimmen auch nicht.
Ziel der Studie: Äpfel gegen Apfelallergie
Wichtig ist zum Beispiel die Vorgeschichte: Naturschützern vom BUND Naturschutz, die Streuobstwiesen pflegen und Hofläden beliefern, ist schon vor über zwanzig Jahren aufgefallen, dass Apfelallergiker bei manchen alten Sorten weniger oder keine Symptome haben.
2005 begannen sie, diese Apfelsorten auf ihre Inhaltsstoffe zu untersuchen. Das drang zu den Allergologen durch und man beschloss gemeinsam ein wissenschaftliches Experiment zu der Frage: Vertragen Apfelallergiker alte Sorten besser?
Und können sie mit diesen Äpfeln ihre Allergie mildern oder ganz zum Abklingen bringen – und zwar so, dass sie anschließend wieder Äpfel essen können?
Desensibilisieren mit alten Sorten, das war die Idee.
Der Ausgangspunkt der Studie war nicht: Die sprunghaft gestiegene Zahl von Apfelallergikern in Deutschland alarmiert Mediziner der Charité. Sie suchen nach der Ursache, die Forscher vermuten sie in den modernen „Frankenstein-Äpfeln“.
Solche Supermarktfrüchte geben sie Allergikern und testen dagegen „unverfälschte Ursorten“. Ergebnis: die Fachleute „wundern sich“ (Zitate alle aus der FAZ).
Das wäre zwar eine tolle Story, in der Ärzte einen Industrie-Skandal aufdecken.
Aber so war es nicht. Hier der Ausschnitt aus dem Original-Studienpapier von Bergmann et al., 2019/2020:
Die Romantik von „unverfälschten Ursorten“
Das bedeutet: Der Ausgangspunkt der Studie war schon, dass bestimmte Sorten von Apfelallergikern besser vertragen werden als andere.
Was Strobel y Serra außerdem verschweigt und was die Allergologen sehr wohl wissen: Auch alte Sorten können allergische Symptome auslösen.
Darauf weisen die Charité-Forscher hin: Kein Allergiker, so Prof. Karl-Christian Bergmann 2020 in der SZ und an anderen Stellen, solle einfach so in einen Apfel von der Wiese beißen.
Gleichzeitig gibt es keine „unverfälschten Ursorten“: Ausnahmslos alles Kulturobst, besonders Äpfel, sind Produkte intensiver Zucht. Die begann bei Äpfeln schon vor 6000 Jahren.
Die Früchte früherer Zeiten schmeckten roh aber nicht unbedingt, deshalb wurden sie traditionell verarbeitet.
Einige von ihnen veränderten ihren Geschmack durch langes Lagern, mehrheitlich wurden sie zu Mus gekocht und gesüßt, in Kuchen verbacken, zu Met vergoren oder getrocknet, so dass sich ihr Zucker konzentrierte und sie genießbar wurden.
Moderne Äpfel kommen nicht aus der Retorte
Jüngere Sorten, die heute dominieren, kommen übrigens keineswegs aus der Retorte oder dem Genlabor, sondern waren Zufallssämlinge – und sind auch schon alt: der Granny Smith, entdeckt 1868 oder erfolgreiche Rote Delicious, der 1872 von einem Apfelfarmer in den USA entdeckt wurde.
Viel älter ist der für Allergiker oft verträgliche Boskop auch nicht, ein Zufallssämling von 1856.
Aber wir wollen uns jetzt nicht verfransen. Natürlich wurde an bestimmten Sorten, darunter Delicious, weiter gezüchtet, speziell auf Süße und Lagerfähigkeit.
Nur ist das kein Komplott der Agrarindustrie, keine Verschwörung böser Mächte. Es ist eine historische Entwicklung in der Landwirtschaft, allen Industrieländern und – leider – ein Wunsch der Kunden.
Dieser Trend begann schon im idyllischen 19. Jahrhundert eines Wilhelm Busch: Bauern arbeiteten an attraktiven Sorten, um ein besseres Geschäft zu machen und brachten ihre Entdeckungen auf Zuchtschauen.
Gleichzeitig suchten Händler Äpfel nach Lager- und Transportfähigkeit aus, denn die Eisenbahn machte es möglich, Obst über lange Strecken in Läden der großen Städte zu liefern. Dort wollte man frische Früchte, und zwar möglichst immer.
Jeden Tag frisches Obst: ein Luxus der Moderne
Der böse Plan ist also ziemlich alt.Und der Treiber ist nicht alleine „die Agrarindustrie“ – letztlich bestimmen die Kunden, welche Äpfel sie wollen.
Ob die Massen dabei den richtigen Geschmack haben oder einfach nach möglichst süßen, roten Äpfeln greifen, sei dahin gestellt.
Heute werden aber Streuobstwiesen mit vergessenen, wenig ertragreichen Apfelsorten zum Glück wieder geschützt und gefördert – das sollten die Kunden nutzen.
Da sind wir von Quarkundso.de ganz auf Seiten von Strobel y Serra: Wir ermutigen ausdrücklich zum Einkauf in Hofläden oder zum Pflücken auf Streuobstwiesen.
Gravensteiner und Goldparmäne schmecken, ob frisch oder im Kuchen, so viel besser als die unreif geernteten, mehligen Delicious-Abkömmlinge.
Wir finden auch, dass unbedarft konsumierende Verbraucher für ihre eigene Gesundheit verantwortlich zu machen sind.
Uns stört aber dieser Verschwörungsmythos von einer planvoll destruktiven Agrarindustrie. Zumal ganzjährig frisches Obst und Gemüse an sich schon eine Ideologie der Moderne ist: Wann gab es das schon für alle Menschen, wie es heute der Fall ist? Und ohne „Agrarindustrie“ wäre die Fülle gar nicht erst möglich.
Was hinter der Apfelallergie steckt
Auch medizinisch ist die Story verkorkst: Der FAZ-Autor legt nahe, dass „Industrieäpfel“ die Allergien verursachen, die modernen Sorten also gesunde Menschen zu Allergikern machen.
Das ist falsch. Eine Apfelallergie beruht stattdessen auf einer Allergie, die schon besteht. Und zwar gegen Pflanzenpollen, vor allem gegen die von Birken, wie die medizinische Stiftung ECARF erklärt, Link steht unten.
Menschen, deren Immunsystem auf Pollen überstark reagiert, entwickeln oft sogenannte Kreuzallergien. Bei Birkenpollenallergie können das Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Pfirsiche, Walnüsse, Karotten oder Sellerie sein.
Etwa 15 Prozent der Deutschen sind nun gegen Birkenpollen allergisch, von ihnen haben bis zu einem Drittel eine Apfelallergie, sagt die Charité in ihrer Studie. Daher stimmt übrigens diese Zahl von etwa drei bis maximal vier Millionen Apfelallergikern, siehe oben – und nicht zwanzig bis dreißig.
Aber egal, wichtig ist der Hintergrund: Birkenpollen und bestimmte Stoffe in Äpfeln ähneln sich sehr, die falsch programmierten Immunzellen verwechseln sie und fahren die Abwehr hoch, wenn die Apfelstoffe im Körper ankommen.
Mehr Pollenbelastung durch Klimawandel
Eine schon vorliegende Allergie gegen Birkenpollen ist also die Ursache für unangenehme Reaktionen auf „Industrieäpfel“ – die sind allenfalls Auslöser der Symptome.
Die Birken blühen aber immer früher, das liegt am Klimawandel, erklärt das Helmholtz-Zentrum München in seinem Allergie-Informationsdienst.
Sie blühen auch länger und produzieren mehr Pollen, die in Städten stärker allergengeladen sind – und ja, an all diesen Dingen ist irgendwie auch die Industrie schuld, die Abgase, Lärm, Stress, Putzmittel und Lacke produziert.
Nur halt nicht die Lebensmittelindustrie.
„Problemäpfel“ auch in der Süddeutschen Zeitung
Alles in allem drängt sich der Gedanke auf, dass der FAZ-Autor für seine Brandschrift nicht wirklich recherchiert hat. Die Studie der Charité von 2019, auf die er sich bezieht, hat er, wenn, dann nicht gründlich oder vielleicht überhaupt nicht gelesen.
Möglicherweise hat er sich auch auf die Arbeit einer Kollegin verlassen, die schon vor ihm über Apfelallergien geschrieben hat. Ihr Beitrag erschien 2020 in der Süddeutschen Zeitung und enthält die ganze Story mit vielen Details, die sich bei Strobel wiederfinden.
Autorin ist Dr. Christina Berndt, eine studierte Biochemikerin, durchaus vom Fach.
Auch sie deutet an, dass es wegen der Äpfel mehr Allergien gibt, obwohl der von ihr wörtlich zitierte Allergieforscher Bergmann – der von der Studie der Charité – das nicht sagt.
Den Hintergrund mit der Birkenpollenallergie schildert sie ebenfalls nicht korrekt, sondern schreibt, dass diese eine „zusätzliche Herausforderung“ für Apfelallergiker darstelle.
Kein kausaler Zusammenhang, kein Wort von Kreuzallergien. Die Story mit dem bösen Frankenstein-Obst ist einfach zu schön.
Passend dazu steht über dem Text der SZ: „Problemäpfel“.
Auch im Meinungsbeitrag müssen die Fakten stimmen
Wie auch immer, seine Quellen nennt Strobel y Serra gar nicht erst.
Für uns aber ist das Menetekel, das Drama des Anfangs verpufft. Und wir stellen deshalb die Frage nach dem Handwerk: Darf ein Meinungsbeitrag mit falschen Fakten operieren?
Ist eine reißerische Darstellung, das Frisieren von Zusammenhängen, erlaubt, weil der Artikel erkennbar ein Meinungsbeitrag ist? Nur Meinung?
Der Deutsche Presserat hat sich in ähnlichen Fällen, zum Beispiel 2023, schon geäußert: Die journalistische Sorgfaltspflicht gilt auch für Meinungsbeiträge. Wissenschaftliche Studien müssen also korrekt zitiert werden, Zahlen sollten stimmen.
Was für eine Industrie wollen wir haben?
Das Bashen von Herstellern, Händlern und Bauern wiederum hat seine ganz eigene, ja, Aufmerksamkeitsmechanik.
Dass und wie die Industrie uns absichtlich vergiftet, manipuliert, abhängig macht, dass die Suppe lügt und Abfall umgefruchtet im Jogurt landet, füllt viele populäre Sach- und Schrottbücher – langsam nervt es.
Ja, es gibt schlechte Fertiggerichte und viel Gepansche. Dagegen muss man etwas tun. Aber es führt nirgendwo, an keiner Stelle, ein Weg zu einer kompletten „Deindustrialisierung“.
Wie soll das gehen, in welchem Bereich funktioniert das? Hunderte von Millionen von Menschen in Europa, alleine in Europa, zu versorgen, geht nicht völlig ohne Industrie – „deindustrialisiert“.
Es geht nicht ohne gutes Mehl – Industrieprodukt. Ohne Nudeln in Packungen – Industrieprodukt. Ohne Öl, das wir in Flaschen kaufen und nicht in Kanistern aus der Ölmühle holen.
Mit anderen Worten: Wir brauchen Produkte aus der Industrie – aber gute Produkte aus einer guten Industrie. Alle können etwas tun, um Hersteller, Bauern, Händler dazu bringen, gut und sauber zu arbeiten.
Darüber stimmen wir beim Einkauf ab.
@Johanna Bayer
+++UPDATE+++Auf Nachfrage der Chefredakteurin sagt Prof. Karl-Christian Bergmann von der Charité, Leiter der Apfel-Studie von 2019, ihm läge keine Rechercheanfrage der FAZ oder eine Gesprächsanfrage von Strobel y Serra vor.+++Die Antwort kam nach Erscheinen dieses Beitrags, die Nachfrage wurde zuvor gestellt+++
BUND-Info für Apfelallergiker mit Hintergrund der Studie
Allergie-Informationsdienst des Helmholtz-Zentrums München zu Allergien und Klimawandel
„Problemäpfel“ – Christina Berndt. Süddeutsche Zeitung, 10.6.2020
Deutscher Presserat, Entscheidung von 2023 zu Fakten in Meinungsbeiträgen
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